24.11.2021

Das "Ethik-Eck": All die kleinen Schummeleien ...

„Du sollst nicht lügen…"

Die Frage lautet diesmal: „Du sollst nicht lügen… aber all diese Schummeleien durch den Tag: ,Das steht Dir aber gut‘ etc. gehören die dazu? Oder ist es einfach unbarmherzig, immer und überall die Wahrheit zu sagen? Vielleicht ist es ja nur ,meine Wahrheit‘?“


Nur sagen, was wahr ist
„Du sollst nicht lügen“ steht so nicht in der Bibel. Präzise heißt es in Exodus 20,16 vielmehr: „Nicht sollst Du aussagen gegen Deinen Nächsten (als) ein Lügenzeuge.“ Hier geht es um eine Lüge, die den anderen schädigt, seinen Ruf zerstört oder sogar vor Gericht zur Falschverurteilung führt. Die grundsätzliche Bindung an die Wahrheit ist zwar mitgemeint, aber nicht der Kern des Verbots. Vielmehr soll der Mensch vor Angriffen im Verborgenen geschützt werden, gegen die er sich nicht wehren kann. Dies ist in Zeiten von Internetforen, in denen ohne viel Problembewusstsein Meinungen oder gar Anklagen ohne Absender in die Welt gesetzt werden, hochaktuell.
Schummeleien im Alltag fallen in eine andere Kategorie. Trotzdem sind sie nicht harmlos. Denn wenn ich nicht meine, was ich sage, entwerte ich Sprache und Kommunikation. Ein falsches Kompliment ist nicht besser,
sondern schlechter als keines, weil es nicht wahr ist. Das schädigt das wahrhaft Schöne und Gute, so wie der falsche Liebesschwur eines Heiratsschwindlers die Liebe selbst und das Vertrauen in sie zerstört.
Wie aber kommt man wahrhaftig durch den Alltag? Dazu finde ich eine Richtschnur im vierten Kapitel des Johannesevangeliums. Dort trifft Jesus am Brunnen in Samarien eine Frau. Ein Gespräch entspinnt sich, und auf einmal sagt Jesus recht unvermittelt: „Geh, ruf Deinen Mann!“ Die Frau antwortet: „Ich habe keinen Mann.“ Jesus antwortet: „Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. Denn fünf Männer hast Du gehabt, und der, den Du jetzt hast, ist nicht Dein Mann. Damit hast Du die Wahrheit gesagt.“ Die Frau hat nicht alles gesagt. Aber was sie
gesagt hat, ist wahr. Jesus respektiert das.
Es geht also nicht darum, immer alles zu sagen. Aber das, was wir sagen, sollte wahr sein. Wenn es nichts Gutes und Passendes zu sagen gibt, steht uns doch offen, nichts zu sagen. Die Samariterin gibt uns dafür ein Vorbild. Und wir sollten uns dabei nicht unbedingt an ihren Männern stören, denn der Evangelist zeigt uns mit ihr weniger eine Frau in ungeordneten Verhältnissen als vielmehr eine Symbolfigur für Samarien: Ihre Männer stehen für fremde Götter, und es geht Jesus bei der Begegnung darum, Samarien in die Gemeinschaft mit Gott, seinem wahren Ehemann, zurückzuführen.

Schwester Igna Kramp
gehört der Congregatio Jesu (Maria-Ward-Schwestern) an und leitet im Bistum Fulda den Entwicklungsbereich Geistliche Prozessbegleitung.

 

Realistisches Bild von sich
Immer die Wahrheit sagen und nie lügen – das klingt ja wirklich nach totalem Anspruch.
Die Paartherapeuten sagen: Bitte keine Sätze mit „immer“ und „nie“, die schlagen die Kommunikation tot; immer tust du, nie sagst du …
Also lieber schummeln?
Von echten Lügen sprechen wir hier nicht. Die haben noch ganz andere Motive: Angst, vor allem, Versuche, sich Vorteile zu verschaffen, betrügen, vermeiden, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, Macht durchsetzen.
Aber smarte und nette Floskeln? Die machen das Gespräch und den Kontakt doch geschmeidig, helfen über vieles hinweg. Die schleifen die Kanten ab und machen alles netter und ungefährlicher. Dann klappt es doch viel besser.
Ich schone die anderen – aber vor allem auch mich selbst. „Es war so viel Verkehr“, ist schonender, als zu sagen, „ich bin zu spät los“. – „Ich habe so viel Stress“, einfacher als: „Ich bin nicht fertig geworden.“ – „Ich freue mich immer, Sie zu sehen“: netter Einstieg ins Gespräch.
Kann man natürlich machen.
Aber stimmt das wirklich? Wird der Kontakt dadurch leichter? Eine tiefere Verbindung entsteht dadurch eher nicht. Man kommt sich nicht nahe. Man versteht auch von sich und anderen weniger.
Wenn jemand das anders machen will, wird es anspruchsvoll. Wenn jemand sich entscheidet, weniger zu schummeln und an der Wahrheit zu drehen, braucht er erst mal ein möglichst klares, realistisches Bild von sich selbst. Dann sage ich nicht „so viel Stress“, sondern überlege, ob ich vielleicht nicht gut planen kann oder die Aufgabe mir nicht liegt oder ich innerlich mit anderen Gefühlen beschäftigt bin oder was auch immer für mich zutreffen könnte.
Dann kommt das Nachdenken über die anderen und die Einfühlung in die anderen. Dann wird wichtig, was und wie ich über jemanden denke oder was ich fühle. Was mir wirklich an jemandem gefällt und sympathisch ist oder was mir fremd ist und was ich gar nicht gut ertragen kann. Und was da an meinem Urteil angemessen wäre.
Ganz schön viel Reflexion – ganz schön viel innere Arbeit – könnte sich aber lohnen. Danach kann ich mich entscheiden, was und wieviel davon ich sagen möchte und wem.
Dann kann ich mir überlegen, was ich wirklich sagen will. Ich kann etwas finden, das freundlich ist und gleichzeitig stimmt. Dann könnte ich etwas sagen, was kritisch ist, aber überlegt und ruhig.
Ich kann auch meinen Mund halten und muss gar nichts sagen.
Ich könnte wirklich in Beziehung kommen – wenn ich es möchte.

Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und Sexualberatung im Haus der Volksarbeit in Frankfurt.

 

Kein blindes Befolgen
Normen leisten Orientierung für das Miteinander, dienen
der Bewahrung sozialer Ordnungen. Das Lügenverbot ist dafür ein Musterbeispiel. Denn: Unsere Interaktion mit anderen Personen beruht ja im Wesentlichen auf der Annahme, dass unser Gegenüber die „Wahrheit“ spricht, wir uns auf seine Aussagen „verlassen“ können. Wir sind – anders gesagt – darauf angewiesen, dass unsere Mitmenschen wirklich das meinen, was sie uns mitteilen, wovon sie uns erzählen. Alles andere würde Kommunikation verhindern, gelingenden Beziehungen entgegenstehen beziehungsweise sie einem bleibenden Misstrauen aussetzen. Viele von uns wissen aus eigener Erfahrung, wie sehr es unser Vertrauen erschüttern kann, wenn Menschen uns bewusst getäuscht haben. „Du sollst nicht lügen!“ wird damit zu einer Bedingung der Möglichkeit guten Zusammenlebens.
Zugleich belegen Studien, dass wir uns an gewöhnlichen Tagen bis zu 50 bis 200 mal kleinerer wie größerer Lügen bedienen. Die Motive dafür können stark variieren: Wir „schwindeln“ aus Scham, aus Anstand, aus Angst vor Ablehnung durch das Gegenüber oder – vielleicht am häufigsten – aus Sorge, unser Umfeld sonst vor den Kopf zu stoßen. Oftmals geht es bei diesen „Notlügen“ also darum, die/den Andere/n nicht unnötig zu verletzen. Manche Forscherinnen begreifen diese „Schummeleien“ deshalb sogar als soziale Kompetenz. Denn immer ungefiltert die Wahrheit zu sprechen, kann vom jeweiligen Umfeld eben auch als „unhöflich“, „kränkend“ etc. aufgefasst werden und so bisweilen heftige Konflikte hervorrufen.
Aber liegt hier nicht ein Widerspruch vor? Wie können Lügen zugleich Gefährdung wie Sicherung des Miteinanders darstellen? Und: Was heißt das für die Gültigkeit von Normen? Eine Lüge gilt dann als moralisch verwerflich, wenn wir intendieren (oder zumindest tolerieren), dass dem Gegenüber dadurch ein Schaden entsteht, wir andere Personen durch das Gesagte gezielt irreleiten, überlisten, ihr Vertrauen missbrauchen. Umgekehrt mag es aber auch Situationen geben, in denen es gerade unsere Ehrlichkeit sein kann, die unsere Mitmenschen bloßstellt oder verletzt und dadurch sprichwörtlich zur „Waffe“ wird. Normen regulieren also unser soziales Verhalten. Aber: Ihr Einsatz verlangt nach einem Umgang, der wie im Fall des Lügenverbots auf der Verantwortung für das Gegenüber zu gründen hat. Insofern kann sich unser Handeln nicht in der blinden Befolgung von Vorschriften erschöpfen. Vielmehr bedarf es des ständigen Abwägens ihrer Gültigkeit angesichts der involvierten Personen, konkreten Absichten und jeweiligen Umstände.

Dr. Stephanie Höllinger
ist Assistentin am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Mainz.