28.10.2015

Thema: Stell dir vor, es ist Pfarrgemeinderats-Wahl – und alle gehen hin!

„Schwestern und Brüder, zur Urne!“

Sonntag, 8. November 2015. 9 Uhr. Am Pfarrzentrum Himmelshausen gehen die Läden hoch. Menschenschlangen vor den Türen. Endlich: Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Die Ersten dürfen eintreten. Ein Traum von einem Wahlsonntag. Von Maria Weißenberger.

PGR_Wahl„Ich finde, Wahlrecht ist Wahlpflicht“, spricht Vanessa Ehrlicher ins Mikrofon, das Reporter Timo Fröhlich von Radio „Himmel und Hölle“ ihr hinhält. Die 17-Jährige steht ganz am Ende der Schlange und wartet geduldig, bis sie an die Reihe kommt. „Mir ist es wichtig, mitzuentscheiden, wer mich im Pfarrgemeinderat vertritt.“

Mit quietschenden Reifen stoppt Pfarrer Gotthold Wahrlich sein Fahrrad neben der engagierten Messdienerin. Erschrocken liest er das Schild: „Wartezeit ab hier circa 30 Minuten.“ – „So lange? Ich muss ja noch den Gottesdienst in der Filialkirche halten. Nicht dass ich mich vordrängen will – aber ich würde so gern meine Stimme abgeben!“ – „Die Letzten werden die Ersten sein, Herr Pfarrer“, sagt Vanessa Ehrlicher gut gelaunt und lässt ihn vorbei.

Binnen fünf Minuten hat sich der Geistliche an die Spitze der ungewöhnlichen Prozession gesetzt. Ein Blitzlichtgewitter empfängt ihn, als er das Wahllokal betritt. Die 23 Lokalzeitungen und Anzeigenblätter der Region sind vollzählig angetreten, um das Ereignis gebührend in Print- und Online-Ausgaben abzubilden.

Seit Monaten werben Plakate und Fernsehspots

Szenen wie diese nicht nur in Himmelshausen, sondern in fast allen Orten Hessens und Teilen von Rheinland-Pfalz. In vier Bistümern wählen die Katholiken ihre Pfarrgemeinderäte (PGR). Seit Monaten stehen Plakate mit Aufrufen wie „Deine Stimme für den PGR“, „Jedes Kreuz zählt“ oder „Schwestern und Brüder, zur Urne“ an sämtlichen größeren Plätzen, vor Supermärkten, an Bahnhöfen und Bushaltestellen. Der Slogan „Mitverantwortung zählt“ verbreitet sich auf Tausenden von Kugelschreibern, Luftballons und T-Shirts, die engagierte Katholiken an Wahlständen unters Volk bringen. Zur besten Sendezeit strahlen die öffentlich-rechtlichen TV-Sender originelle Werbespots aus. In einer namhaften Kirchenzeitung beschwören Pfarrer Woche für Woche die Unverzichtbarkeit des Laiengremiums. In Talkshows thematisieren die regionalen Fernsehsender den PGR und seine Aufgaben.

9.30 Uhr. In Himmelshausen hat sich Vanessa Ehrlicher zur Wahlkabine vorgekämpft. „Gleich mache ich meine Kreuzchen“, postet sie auf Facebook. 100.000 Nutzern gefällt das. Unterdessen schreibt Wahlleiter Kevin Statutovich an eine Tafel: Wahlbeteiligung derzeit 24 Prozent.

Vom Kirchturm schlägt es zwölf. Mittag. Selbst jetzt werden die Schlangen kaum kürzer. Ehrenamtliche der Gemeinde umsorgen die Wartenden mit Kaffee, Tee und kleinen Snacks.

14.30 Uhr. Die Wahlbeteiligung liegt bei 49 Prozent. „Allmählich werden die Stimmzettel knapp“, stellt Wahlleiter Statutovich fest und schickt Karl Immerfroh vom Wahlvorstand an den Kopierer.

16.45 Uhr. Auf der Internetseite der Pfarrei erscheinen erste Fotos von glücklichen Wählern. „Wir halten Sie auf dem Laufenden“, hämmert Administrator Markus Kabel-Loos in die Tastatur. Seinen Blog zur PGR-Wahl haben schon mehr als 5000 Menschen gelesen. Fast panisch verlässt Emma Späth ihren Platz am Computer, um zum Wahllokal zu streben. „Um ein Haar hätte ich vergessen, dass ich noch gar nicht gewählt habe“, erzählt sie atemlos bei ihrer Ankunft am Pfarrzentrum.

17.55 Uhr. In fünf Minuten schließt das Wahllokal. Noch immer stehen rund 50 Menschen vor dem Pfarrzentrum in Himmelshausen. „Lasst uns noch wählen – jetzt noch nicht zählen“, skandieren sie lautstark. Wahlleiter Statutovich lässt zwei provisorische Wahlkabinen zusätzlich aufstellen. Jetzt kann an fünf Plätzen parallel gekreuzt werden.

Die Turmuhr schlägt sechs. Der letzte Wähler wirft den Stimmzettel in die Urne. Statutovich greift zur Kreide: „Wahlbeteiligung 80 Prozent“, prangt es auf der Tafel.

Begeisterte Bischöfe, fiebernde Kandidaten

18.30 Uhr. Vielerorts menschenleere Straßen. In zahlreichen Wohnzimmern flimmern die Fernsehgeräte. Nicht nur katholische Christen zappen sich von Sender zu Sender. Gespannt verfolgen sie die aktuellen Hochrechnungen, unterbrochen von Interviews aus den Dörfern und aus Städten. Begeisterte Bischöfe und andere geistliche Würdenträger kommentieren die erneut gestiegene Wahlbeteiligung.

Kandidatinnen und Kandidaten, die dem Wahlausgang entgegen fiebern, geben Zeugnis von ihrer Hoffnung: „Ich wünsche mir so sehr, dass ich nicht – wie vor vier Jahren – an einer einzigen Stimme scheitere“, bangt Kandidatin Marianne Wohlgemut. „Neu Zugezogene haben es immer schwer, sich durchzusetzen“, weiß sie. „Sollte ich wieder nicht gewählt werden, engagiere ich mich auf jeden Fall im Caritas-Ausschuss.“

19.45 Uhr. In den ersten kleineren Orten sind die Stimmen ausgezählt. Karl-Otto Abermals, seit acht Jahren Mitglied des PGR in Unterbibelnbach, strahlt in die Fernsehkamera. „Dass ich die meisten Stimmen erhalten habe, bestätigt mich“, sagt er. „Gleichzeitig begreife ich den erklärten Wählerwillen als Verpflichtung, künftig nicht nachzulassen.“

20.15 Uhr. Die ARD strahlt einen „Tatort“ von 1997 aus. „Gegen die PGR-Wahl kämen die ohnehin nicht an“, sagt Pfarrer Gotthold Wahrlich, der im Wahllokal in Himmelshausen auf das endgültige Wahlergebnis wartet. Den Sekt hat er bereits kalt gestellt. Sobald die letzten Stimmen ausgezählt sind, steigt die Wahlparty. Die Großbildleinwand fürs Public Viewing ist bereits aufgebaut, damit die Gäste auch vom letzten Platz aus die Live-Übertragung der Talkrunde „PGR spezial“ um 22.15 Uhr im Regionalfernsehen verfolgen können.

„Mit einer sensationellen Wahlbeteiligung von landesweit 82 Prozent hat die PGR-Wahl heute alle Erwartungen übertroffen“, leitet Moderatorin Carla Will-Fürderhin das Gespräch ein. Unter den Talkgästen auch Bürgermeister Theo Tollkühn (Freie Wählergemeinschaft Himmelshausen). Bei zahlreichen Auftritten in den Medien hat er in den vergangenen Wochen die Wahlberechtigten zur Stimmabgabe für den PGR motiviert.

Applaus brandet auf – im Studio und im Pfarrzentrum

„Herr Tollkühn, sind Sie katholisch? Oder weshalb Ihr enormer Einsatz?“ richtet die Journalistin gleich ihre erste Frage an ihn. „Katholisch bin ich nicht“, bekennt Tollkühn. „Aber als Kommunalpolitiker weiß ich, was wir an den Pfarrgemeinderäten haben. Wo dieses Gremium kompetent besetzt ist, strahlt es aus! Was wäre unsere Gesellschaft etwa ohne die christlichen Sozialnetze? Ich kooperiere gern und aus Überzeugung mit dem PGR – gemeinsam für die Menschen!“ Applaus brandet auf. Im Studio und im Pfarrzentrum Himmelshausen, wo sich 300 Gäste vor der Leinwand drängen. Im Studio kommt Tollkühn jetzt erst richtig in Fahrt: „Wenn es den PGR nicht gäbe, müsste man ihn erfinden!“