20.01.2016

Als Gemeinde mit Demenz umgehen

"Alle sind verunsichert"

Er nervt mit seiner ständig gleichen Geschichte vom Krieg. Sie steht im Gottesdienst unvermittelt auf und rennt umher. Demente Menschen sind unberechenbar – und ihren Angehörigen oft peinlich. Deshalb ziehen sie sich zurück. Auch aus der Gemeinde.

 

Wenn eine Gemeinde sich öffnen will für Menschen mit Demenz, braucht es "Schlüsselfiguren". Foto: Koehler

Erwin M. war jahrelang im Kirchenvorstand und im Chor. Dann baute er ab: vergaß seine Noten, quatschte dazwischen. Immer seltener ließen er und seine Frau sich blicken. Nicht im Chor und später auch nicht mehr in der Kirche, wo Erwin M. sich mitunter „daneben“ benahm. „Macht doch nichts“, sagten alte Bekannte halbherzig, aber setzen sich in eine andere Reihe. „Macht wohl was“, spürte seine Frau.

„Das ist eine ganz typische Erfahrung“, sagt Antje Koehler. „Wenn jemand dement wird, sind alle total verunsichert: die Angehörigen, aber auch die Freunde und Bekannten – und auch der Pastor.“ Die Unsicherheit führt zum Rückzug, und das ist eine der schlimmsten „Nebenwirkungen“ der Krankheit. „Der Betroffene selbst vereinsamt und mit ihm seine nächsten Angehörigen, oft der Ehepartner, der mehr und mehr ans Haus gefesselt ist.“

Aber wie kommt man raus aus dem Teufelskreis der Verunsicherung? Dieser Frage widmet sich das ökumenische Projekt „Dabei und mittendrin“, das Antje Koehler leitet. „Wir wollen Gemeinden Tipps an die Hand geben, wie sie demente Mitglieder in ihren Gemeindealltag integrieren kann“, sagt sie. In Köln nehmen bereits mehrere katholische und evangelische Gemeinden teil.

 

Kleine Tricks helfen in alltäglichen Situationen

Im Mittelpunkt des Projekts stehen nicht „Sonderaktionen“ für Demente und ihre Angehörigen. „Das hat auch seine Berechtigung“, sagt Koehler, „aber da gibt es auch schon einiges.“ Viel wichtiger seien die alltäglichen Dinge. „Wir schulen sogenannte ‚Schlüsselpersonen‘“, sagt Koehler, also pastorale Mitarbeiter, Pfarrsekretärinnen und interessierte Ehrenamtliche. Sie lernen kleine „Tricks“, wie man mit schwierigen Situationen im Gemeindealltag umgehen kann. 

Da ist zum Beispiel die alte Dame, die während der Predigt laut hineinruft: „Mir ist langweilig!“ „Da kann es helfen, wenn der Pfarrer den Zuruf aufnimmt und kurz antwortet, statt mit peinlichem Schweigen zu reagieren“, so Koehler. Oder der Herr, der in der Messe ruhelos hin und her läuft, wie jemand bei einer Schulung erzählte. „Eine Frau reichte ihm den Arm und drehte mit ihm eine Runde in der Kirche; danach konnte er sich wieder setzen“, erzählt Koehler.

Eine anderes Thema sind Besuchsdienste, etwa zu runden Geburtstagen. „Eine Ehrenamtliche berichtete in der Schulung, dass sie zu einem Geburtstag kam und der Jubilar sie anblaffte: ‚Hier hat keiner Geburtstag!‘ Die Frau war so verunsichert, dass sie sofort ging“, erzählt Koehler. Wer darauf vorbereitet ist, sagt vielleicht: „Darf ich Ihnen trotzdem Blumen schenken?“

Das Interesse, an dem Projekt „demenzsensible Gemeinde“ mitzumachen, ist in Köln und Umgebung groß. „Wir haben schon Interessenten für Kurse ab 2018, obwohl wir noch gar nicht wissen, ob das Projekt verlängert wird“, so Koehler. Die Nachfrage zeigt: Das Thema ist in den Gemeinden angekommen, fast jeder kennt jemanden, der betroffen ist – als Erkrankter oder als Angehöriger. „Das Erstaunliche an dem Projekt ist“, sagt Koehler, „dass es die Gemeinde insgesamt verändert.“ Denn ziemlich schnell ginge es nicht mehr ausschließleich um demenziell Erkrankte, sondern insgesamt um Verschiedenheit in der Gemeinde. „Sind bei uns alle willkommen? Nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch?“, diese Frage gelte, so Koehler, auch für Behinderte, Ausländer oder sozial Schwache. „Wir kommen deshalb immer bald zu der Frage: ‚Wie können wir insgesamt eine einladende Gemeinde sein, vielleicht mehr als bisher?‘“

Doch Antje Koehler ist auch klar, „dass wir nicht alle Leute schulen können“. Deshalb gibt es einige Materialien, mit denen Gemeinden sich selbst helfen können. „Es geht um kleine Schritte. Was können wir ohne großen Aufwand verändern?“ Dazu kann ein besonders gestalteter Sonntagsgottesdienst genauso gehören wie ein Infoabend im Gemeindehaus, ein offenes Singen ebenso wie gut geschulte Lektoren. „Es geht um mehr Information und Ermutigung für Gemeinde, Gruppen und Verbände. Es muss selbstverständlicher werden, dass Menschen mit und ohne Demenz zusammen leben und glauben.“ Vor allem die Angehörigen brauchen Ermutigung. „Sie müssen wissen: Es ist erwünscht, dass ihr ‚trotzdem‘ dabeibleibt.“

 

Zur Sache:

Zwei Handreichungen können weiterhelfen: „Achtsame Geburtstags- und Krankenbesuche bei Menschen mit Demenz“. Und: „Dabei und mittendrin. Gaben und Aufgaben demenzsensibler Kirchengemeinden“. Zu bestellen sind sie unter: www.demenz-sensibel.de. Antje Koehler gibt auch gern selbst Auskunft: 0221/71 50 14 10

Von Susanne Haverkamp