26.10.2016

Was viele Menschen an Allerheiligen und Allerseelen beschäftigt

Braucht’s ein Grab zum Trauern?

PRO KONTRA

Ruth Lehnen Foto: Marie Eickhoff

Ruth Lehnen ist stellvertretende Redaktionsleiterin der Kirchenzeitung.

Maria Weißenberger Foto: Marie Eickhoff

Maria Weißenberger ist Redakteurin der Kirchenzeitung.
(Fotos: Archiv)

Ja, auf jeden Fall braucht’s ein Grab. Es braucht ein Grab als Ruhestätte für den Toten. Und auch die Lebenden brauchen das Grab als Ort zum Trauern, zum Erinnern, zum Begreifen.

Am schönsten ist das beschrieben im Aschenputtel. Hier wird erzählt, wie das Aschenputtel jeden Tag zum Grab der Mutter ging und weinte. Als der Winter kam, „deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auf das Grab“ – Zeit vergeht. Aschenputtel wünscht sich nun ein Reis von ihrem Vater, einen Zweig, den sie auf das Grab pflanzt und mit ihren Tränen begießt: „Es wuchs aber und wurde ein schöner Baum.“ Von diesem schönen Baum fällt am Ende der Geschichte – „Bäumchen rüttel dich, Bäumchen schüttel dich“ – ihre Rettung. Es fällt ihr die Kraft zu, zu werden, die sie ist, egal, was die anderen in ihr sehen.
Das Grab zu besuchen, dort Tränen zu vergießen, es zu hegen und zu pflegen manches lange Jahr, ist ein Dienst, den die Hinterbliebenen ihren Toten erweisen, ja. Aber es ist auch ein Dienst, den Menschen sich selbst erweisen. Sie erlauben sich damit, sich ihrem Verlust und ihren Verletzungen zu stellen. Und daraus erwächst neue Kraft, neue Stärke. Das Grab als grüner Ort der Pflanzen, nicht als marmorstarrendes Mausoleum, führt behutsam Vergehen und neues Leben vor.
Mit der Zeit werden die Trauernden das Grab nicht mehr so oft besuchen. Der scharfe Schmerz ebbt ab, an seine Stelle treten wehmütiges Erinnern und ein Hinnehmen des Unabänderlichen. Robert Walser schrieb über einen Gang zu den Gräbern, dass der Ort des ernsten Todes und des Schweigens „so süß, so grün, so warm“ gewesen sei. „Lange stand ich da, doch nicht traurig.“ Nichts tröstet den trauernden Menschen wie ein Grab, eine Heimat für den Verwaisten.

Jedem, der diese Orte verteidigt, bin ich dankbar, der Kirche bin ich dafür dankbar.

Gestatten Sie, dass ich zunächst allein von mir spreche: Ich habe noch nie das Bedürfnis gehabt, das Grab lieber Menschen aufzusuchen, um meine Trauer zu leben – auch nicht, um mich an „meine“ Toten zu erinnern. Dies, obwohl ich das Ritual der Bestattung für unverzichtbar halte – weil es den Abschied in einer guten Weise gestaltet und weil es zu begreifen hilft, dass ein Mensch, der ganz selbstverständlich zu meinem Leben gehört hat, nicht mehr in dieser Welt ist.

Zu meinem Leben gehören die Menschen, an deren Grab ich stehen musste, noch immer – bin ich doch davon überzeugt, dass der Tod eben nicht das Ende ist. Meinen Vater, meine Großeltern, viele Verwandte und manche Freunde musste ich gehen lassen, und vom Schmerz des Abschieds hat mich – natürlich – auch mein Glaube nicht befreit. Die vielen Momente, in denen es weh tut, dass vertraute Menschen nicht mehr dabei sind, bleiben mir nicht erspart. Aber ich glaube, dass sie mir vorausgegangen sind in ein neues Leben, das ich auch für mich erhoffe. Und ich denke, es ist keine Einbildung, wenn ich immer wieder spüre, dass sie lebendig und mir verbunden sind.

Für diese Er-Innerung brauche ich kein Grab. Ich weiß, dass mich manche Menschen für herzlos halten, wenn sie merken, dass ich selten Gräber von Angehörigen und Freunden aufsuche. Deshalb bin ich umso dankbarer für jeden, der akzeptiert, dass ich meine Erinnerung im Herzen trage – egal wohin ich gehe. Ich akzeptiere ja auch, dass anderen der Gang zum Grab hilft, ihre Trauer zu bewältigen und die Erinnerung zu bewahren.
Es mag nun überraschen, wenn ich sage, dass ich gern über Friedhöfe gehe. Zum Beispiel an Urlaubsorten, obwohl ich niemanden kenne, der dort begraben ist. Friedhöfe helfen, das wertvolle Bewusstsein wachzuhalten, dass der Tod zum Leben gehört. Als Ort der Trauer brauche ich sie nicht.