04.11.2015
1700 Jahre St. Martin
Eine Geste mit Folgen
Es war eine Geste von vielleicht zwei Minuten. Aber sie wirkt über eineinhalb Jahrtausende: Ein Offizier teilt seinen Mantel mit einem Obdachlosen. Martin von Tours wurde zum beliebtesten Vorbild Europas. Doch der Kontinent tut sich schwer, ihm zu folgen.
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Mosaik in der Martinskirche in Ludwigshafen-Oppau Foto: Immanuel Giel |
Daran wird wohl auch der Kulturweg nichts ändern, den der Europarat schon vor zehn Jahren dem Heiligen gewidmet hat. Die „Via sancti Martini“ verbindet dessen Geburtsort im ungarischen Szombathely nahe der Grenze zu Österreich mit der Martinsbasilika in Tours an der Loire, wo das Grab des Heiligen verehrt wird.
Die Route verläuft von Ungarn über Slowenien und Norditalien über die Alpen nach Frankreich. Sie berührt Orte, an denen Martin wohl tatsächlich gewesen ist. Ein zweiter Weg verläuft nördlich über Wien und Linz nach Bayern und Rheinland-Pfalz. Von Trier führt er über Luxemburg, Paris nach Tours. Zudem gibt es Nebenrouten. Kein Zweifel: Sankt Martin ist beliebt in vielen Ländern, Hunderte Orte tragen seinen Namen, vielerorts wird die Szene mit dem Mantel nachgespielt; kaum ein Kindergarten ohne Martinsumzug. Und wo jemand diesen aus falscher „political correctness“ zum Lichterumzug degradieren will, beruhigen muslimische Vertreter: Wir haben kein Problem mit Martin; er tat, was ein guter Muslim auch tun soll.
Der Besatzungsoffizier am Stadttor von Amiens übertrat mit seiner Geste gegenüber einem Lumpenproletarier damals gott- und naturgegeben hingenommene soziale Grenzen. Das war brisant. Und Brisanz hat Martin heute noch. Hat Europa mit seinen sozialstaatlichen Einrichtungen und seinem Spendenwesen – so gut sie grundsätzlich sind – keineswegs Armut und Ungerechtigkeit überwunden.
Den eigenen Mantel wieder enger wickeln
Sankt Martin mahnt, dass nicht alle Hilfe sich professionell delegieren und per Spendenquitung steuerlich absetzen lässt. Dass jeder einmal – wie er – an einen Punkt gelangt, wo er sich entscheiden muss, ob er mit schönen Vorsätzen ernst macht oder ein Schwätzer bleibt. Einen Punkt, an dem er merkt: Christliche Liebe ist riskant, sie kann wehtun. Den Extremfall zeigt jeder Kreuzweg in den Kirchen des christlichen Abendslandes.
Über 1600 Jahre nun führt Europa sich den Mann vor Augen, der so provozierend teilte. Martins Weg tatsächlich zu gehen, fällt dem Kontinent schwer: ob Einzelne oder Gesellschaften mit
ihren Armen oder Flüchtlingen tei-
len sollen. Oder ob Europas Staaten diese Lasten untereinander teilen müssten: Da wickeln sich Einzelne wie Nationen lieber wieder enger in ihren eigenen Mantel, während es in den Herzen kälter wird und andere Menschen erfrieren.
Von Roland Juchem