16.08.2016

In der „Grimmwelt“ in Kassel eintauchen in die Welt zweier fabelhafter Brüder

Lauschen aufs Rauschen im Wörterwald

Märchen mit allen Sinnen entdecken: Diesen Sommer führt die Kirchenzeitung Sie an zauberhafte Orte. In der „Grimmwelt“ in Kassel lässt sich eintauchen in die Welt der Gebrüder Grimm. Von Ruth Lehnen.

Es waren einmal Brüderchen und Brüderchen: „Wir wollen uns einmal nie trennen“, schreibt Jacob 1805 an den jüngeren Bruder Wilhelm, und so ist es dann auch gekommen: Bis Wilhelm Grimm 1859 starb, führten die „Gebrüder Grimm“ einen gemeinsamen Haushalt.
Sie waren ein hochbegabtes Dreamteam. Was die meisten heute von ihnen wissen, dass sie die wunderbaren „Grimms Märchen“ vor dem Vergessen gerettet haben, ist nur ein Bruchteil ihrer Lebensleistung. Wer in die „Grimmwelt“ nach Kassel kommt, lernt die Brüder richtig kennen.

Wispern, rumpeln, knallen – so hallt es wider von überall

Jacob und Wilhelm waren Männer des Wortes. Gleich zu Beginn der Ausstellung wird das mehr als deutlich. In der Phantasie hört der Besucher die Feder kratzen: mit 1400 Freunden und Kollegen standen die Brüder europaweit in Kontakt. Das lässt sich heute darstellen mit modernster Technik und Lichteffekten, aber auch mit einem Mega-Tintenfass, denn es hat jemand ausgerechnet, dass sie etwa 207 Liter Tinte im Lauf ihres Lebens verschrieben haben.
Vor allem aber waren die Grimms Jäger und Sammler. Mit der Urheberschaft nahmen sie es nicht ganz genau. Als ihr später so erfolgreiches Märchenbuch erschienen war, schreibt ihr Freund Achim von Arnim am Weihnachtsabend 1812: „Ich glaube es euch nimmermehr, selbst wenn ihr es selbst glaubt, dass die Kindermärchen von Euch so aufgeschrieben sind, wie Ihr sie empfangen habt.“

Der "Grimm-Sound" in Märchen

Heute ist erwiesen, dass vor allem Wilhelm die Märchen, die viele Menschen erzählt hatten, von Ausgabe zu Ausgabe umgeschrieben und so einen eigenen „Grimm-Sound“ geschaffen hat.
Der Grimm-Sound: „Es war einmal ... wer ist die Schönste im ganzen Land... wenn das Deine Mutter wüsst ... jetzt komme ich noch einmal, und dann nimmermehr ... und wenn sie nicht gestorben sind, dann ...“ Das kennt fast jeder und hat es gehört, von Müttern und Großmüttern, von der Schallplatte und aus dem Kassettenrecorder, von CD und aus dem Fernseher. Hat gebannt gelauscht, wie die Kinder in der „Grimmwelt“, die ihr Ohr an die Lautsprecher in der stilisierten Dornenhecke drücken. Sie hören es wispern von Dornröschen, rumpeln vom Rumpelstilzchen und knallen von den Jägern im Wald, die auf den Spuren des Rehleins sind in „Brüderchen und Schwes-terchen“.

Zwei Kinder stehen im Museum vor einem schwarzen Trichter, Foto: Nikolaus Frank
Kinder im Grimm-Museum, Foto: Nikolaus Frank

Das Echo hallt fort und fort, in der Literatur, in der Psycho-analyse, in der Kunst. Die Grimms waren immerzu dabei, etwas zu retten: Wörter für ihr „Deutsches Wörterbuch“, Märchen vor dem Vergessen, Erinnerungen fürs Familienarchiv. Mit ihrer Liebe für das Kleine, ihrer „Andacht zum Unbedeutenden“ haben sie Heinzelmännchen und Zwerge und Wichtel und Hänsel und Gretel groß gemacht. Sie waren barmherzige Samariter des Wortes, und ob sie jemals fertig werden würden, hat sie nicht geschert. Das „Deutsche Wörterbuch“ sollte ursprünglich von A bis Z zehn Jahre brauchen. 25 Jahre nach dem Beginn der Arbeit war der ältere Bruder Jacob, der Wilhelm überlebt hatte, bei „F“ angekommen und starb. Aber ihr Projekt, ursprünglich eine unfassbar große Zettelsammlung noch vor der Erfindung normierter Karteikärtchen, wurde fortgeführt von Generationen von Germanisten und ist heute im Internet zu finden.
 

Die Spindel surrt in allen Sprachen und Tönen

Und die Märchen breiteten sich aus in alle Sprachen und Töne. „Erzählenhören“ heißt ein Höhepunkt in der „Grimmwelt“ — das gemeinsame Erzählen des  Märchens vom Rumpelstilzchen in 23 Sprachen und fünf Dialekten. Von verschiedenen Bildschirmen dringt es auf den Zuschauer ein, der die Spule surren hört auf Englisch, Deutsch, Türkisch und Arabisch, Norwegisch und Griechisch. Alle, alle, alle kennen dieses Märchen, und wenn sie nicht gestorben sind, erzählen sie es ihren Kindern und Enkeln.

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