07.04.2016

Das Gewissen entscheidet

Mit Gott im Widerstand

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, bezeugen die Apostel vor dem Hohepriester. Die Gewissensentscheidung bewährt sich in Situationen, in denen es existenziell wird. Leicht machen kann es sich damit niemand.

Szenenfoto aus dem Spielfilm "Sophie Scholl - die
letzten Tage" von 2005 mit Julia Jentsch.
Foto: pa/Mary Evans

„Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!“: Ob Martin Luther diesen berühmt gewordenen Satz tatsächlich vor dem Reichstag in Worms gesprochen hat, darüber streiten sich die Historiker bis heute. Er ist aber so oder so zum geflügelten Wort geworden. Als ein Bekenntnis dafür, dass die tiefe Überzeugung des Gewissens nicht vor weltlichen Urteilen einknicken kann. Das gereifte Gewissen lässt letztlich keine andere Wahl, als an der Überzeugung festzuhalten, und koste es ein hartes Urteil vor dem Gesetz oder vor der öffentlichen Meinung – oder koste es am Ende das eigene Leben. 

Wie bei den Vertretern des Widerstandes gegen die Nationalsozialisten: die Geschwister Scholl und die anderen Studenten der „Weißen Rose“ etwa. Oder der österreichische Kriegsdienstverweigerer Franz Jägerstätter: Sie bezahlten mit ihrem Leben, weil sie aus ihrem christlichen Glauben heraus nicht mitmachen konnten bei dem, was formal zwar „Gesetz“, aber für sie offenkundig nicht „Recht“ war. Sie widersetzten sich, weil sie „Gott mehr gehorchten als den Menschen“, die sich als Unmenschen erwiesen.

Die gläubige Gewissensentscheidung geht freilich in einem Unrechtsstaat andere Wege als in einem Rechtsstaat. Die Konsequenzen sind wesentlich existenzieller: Das eigene Leben steht auf dem Spiel. In einem Rechtsstaat mag das Aufbegehren leichter sein; es bleibt aber die Frage, aus welcher Motivation heraus es dann geschieht. Aber auch hier kann es sich niemand leicht machen. Das zeigt etwa das Beispiel aus Belgien Anfang April 1990.

Da sollte ein liberales Abtreibungsgesetz in Kraft treten. Es fehlte nur noch die Unterschrift des Staatsoberhauptes. Doch König Baudouin weigerte sich, das Gesetz zu unterschreiben – aus Gewissensgründen. Deshalb erklärte die Regierung den König – auf eigenen Wunsch, wie es hieß – für „regierungsunfähig“, setzte ihn damit vorübergehend ab und konnte verfassungsgemäß selbst das Gesetz in Kraft setzen. Danach erklärte die Regierung den König wieder für regierungsfähig. Was wie ein diplomatisches Kalkül aussieht, zeigt aber auch, wie ernst es dem König war, sich nicht zum Gehilfen von etwas zu machen, was sein Gewissen ablehnt.

Immer wieder haben sich Christen auf das Wort der
Apostel berufen, dass „man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen“. Im Nachhinein fällt das Urteil leichter, ob sie richtig gehandelt haben. In der jeweiligen Situation führt die Frage an die Grenzen der Existenz. Vor der Gewissensentscheidung steht der Gewissenskonflikt und die Gewissensprüfung. Die aber kann – das weiß auch der Katechismus – zu Fehlurteilen führen. Dennoch bleibt das Gewissen die höchste Instanz für einen Christen.

Auch heute gibt es Beispiele, in denen solche Gewissensentscheidungen gefragt sind, Kirchenasyl oder die Debatte um die staatliche Schwangerschaftskonfliktberatung sind Beispiele. Grundlegen gilt: Gott mehr gehorchen als den Menschen – damit kann man es sich nicht leicht machen. Der Berliner Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl hat zur Frage des Kirchenasyls einmal gesagt: 

 

Das Gewissen legitimiert keine Anarchie

„Ein christlich geprägtes Gewissen wird vermutlich zunächst erkennen, dass eine staatliche Autorität unerlässlich ist, damit unterschiedliche Menschen mit höchst unterschiedlichen Interessen friedlich zusammenleben können.“ Die Berufung auf das Wort der Apostel darf also nicht zur Anarchie führen, die die eigene abweichende Meinung mit einer Gewissensentscheidung verwechselt.

Auch kann dies nur den Einzelfall betreffen und nicht zu einem neuen eigenen Gesetz über dem Gesetz werden, das man sich selbst gibt. Der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, hat dies im Blick auf die „Scharia“, das religiöse Gesetz des Islam, einmal so ausgedrückt: „Es gibt ein Recht auf Unterschiede, aber es gibt kein unterschiedliches Recht.“ 

Und was ist mit dem „Naturrecht“, von dem Papst Benedikt XVI. wiederholt sprach, unter anderem auch in seiner Rede im Deutschen Bundestag 2011? Kritiker haben dies damals als „katholische Scharia“ geschmäht. Der Papst wollte damit aber nicht das menschengemachte Gesetz außer Kraft setzen oder den Bundestag als Gesetzgeber infrage stellen. 

Vielmehr erinnerte er vor den Abgeordneten daran, dass es in die Natur des Menschen eingeschrieben ein höheres Recht gibt, grundgelegt in der objektiven Vernunft, geleitet vom Willen nach Frieden und der Suche nach Gerechtigkeit für alle. Daraus leiten sich die Gesetze ab. Für die Gewissensprüfung ist also ein entscheidendes Kriterium, ob die konkreten Gesetze diesem höheren Recht dienen oder zuwiderlaufen.

 

Widerstand mit Kraft und Liebe, nicht mit Gewalt

Wann muss man Gott mehr gehorchen als den Menschen? Am Ende läuft diese Frage immer auf die Entscheidung des persönlichen Gewissens hinaus. Die konkrete Einzelentscheidung ist dann Teil eines gesamten Glaubens- und Lebenszeugnisses. Darauf ist sie bezogen und nicht losgelöst davon.

Oder, wie es Papst Franziskus zu dieser Stelle aus der Apostelgeschichte in einer Predigt sagte: „Wenn jemand Jesus Christus wahrhaft kennt und an ihn glaubt, macht er in seinem Leben die Erfahrung seiner Gegenwart und erfährt die Kraft seiner Auferstehung, und er kann nicht anders, als diese Erfahrung mitzuteilen. Und wenn dieser Mensch auf Unverständnis oder Feindseligkeit stößt, verhält er sich wie Jesus in seinem Leiden: Er antwortet mit Liebe und mit der Kraft der Wahrheit.“ – Mit Liebe und in Wahrheit. Nicht als Rechthaber. Mit Kraft, nicht mit Gewalt.

Von Michael Kinnen