12.05.2016

Kardinal Karl Lehmann: Wichtig ist Mut zu Neuem – und ein klarer Standort

„Nicht einfach auf frühere Rezepte vertrauen“

Kardinal Karl Lehmann blickt im Interview mit der Kirchenzeitung zurück auf seine Amtzeit und auf sein Leben. Und wagt einen Blick in die Zukunft. In seine persönliche und die des Bistums. Ein Auszug aus dem Interview in der Extra-Ausgabe „Mit 80 ist Schluss“.

Sie stehen kurz vor Ihrem 80. Geburtstag – blicken auf fast acht Jahrzehnte Leben zurück. Was waren die schwierigsten, was waren die schönsten Zeiten Ihres Lebens?

Ja, es gab schwierige Zeiten. Ich habe ja noch den Krieg erlebt. Ich erinnere mich an die Nächte in den Bunkern bei den Angriffen, nachts wurden wir davon als Kinder aus dem Schlaf gerissen. Bei Kriegsende 1945 war ich dann neun Jahre alt, war schon einige Zeit in der Schule. Am ersten Tag nach der deutschen Kapitulation, am 9. Mai, mussten wir in der französischen Besatzungszone, so jung wir waren, bereits Französisch lernen.

Kardinal Lehmann Foto: Sascha BraunWir lebten auf dem Land, so dass ich längst nicht so viel erleiden musste wie die Leute in der Stadt. Wir hatten nie Probleme, genügend zu essen zu haben. Aber die Bedrohung war natürlich vorhanden. Mein Vater wurde 1942 eingezogen. Wir wussten monatelang nicht, wo er war. Zwei Onkel von mir, Brüder meiner Mutter, einer von ihnen ist mein Taufpate, kamen nicht mehr nach Hause.

Das war schon eine schwierige Zeit, auch die Monate unmittelbar nach dem Krieg. Nachher wurde es ja relativ schnell besser. Aber es war zum Beispiel unklar, ob ich überhaupt auf ein Gymnasium gehen könnte. Wir waren 30 Kilometer von der nächsten Schule weg, ohne Zug- und Busanbindung. Ich bin dann, privat etwas vorbereitet, 1948 in die zweite Klasse des Gymnasiums eingetreten und konnte noch einigermaßen mit den Gleichaltrigen zum Ziel kommen. 1956 machten wir Abitur. Aber wie gesagt, anderen ging es viel schlechter.

Die Situation hat sich ja dann unglaublich schnell verbessert. Das deutsche Wirtschaftswunder war schon etwas Unglaubliches. Auch wie schnell die Bevölkerung wieder viel Mut fasste, das hat mir schon großen Eindruck gemacht.

Das Wichtigste für mich war dann schon später, als ich Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz war und 1989 die deutsche Einigung kam. Wir hatten schon seit 1988 den Eindruck, da knistert’s in der DDR, da passiert irgendwann in der nächsten Zeit etwas. Deswegen bin ich mit dem damaligen Sekretär der Bischofskonferenz, Wilhelm Schätzler – er lebt jetzt hochbetagt in Regensburg – zu allen Konferenzen der Berliner Bischofskonferenz gegangen. Wir haben weitgehend zugehört, um die Kardinal Lehmann Foto: Sascha BraunSituation zu erfassen, und waren dann mit den Kollegen sehr vertraut, als es im Herbst 1989 ernst wurde. Man darf nicht übersehen: Wir konnten uns ja in Deutschland auf keinen Fall mit ihnen treffen, weder drüben noch in Westdeutschland – höchstens in Berlin. Wenn wir uns getroffen haben, dann war das meist im Ausland bei Sitzungen der Europäischen Bischofskonferenzen und dergleichen. So war es doch gut, dass wir zu zweit, etwas getarnt, zu diesen Sitzungen gehen konnten. Da brauchte man keine Erlaubnis, das ging innerhalb von Berlin. Es war schon viel zu tun, aber es war eine großartige Zeit.

Wir haben ja alle nicht mehr geglaubt, dass eine deutsche Einheit entsteht und sind genauso überrascht worden wie fast alle Menschen. Das gab über Jahre hindurch natürlich Nachwirkungen – bis heute. Es machte schon viel Arbeit, aber das war eine schöne Aufgabe.

Schöne Zeiten waren auch meine 18, 19 Jahre an vier verschiedenen Universitäten. Zum Beispiel in München bei Karl Rahner, der dort als Nachfolger von Romano Guardini den Lehrstuhl für Religionsphilosophie und Christliche Weltanschauung innehatte. Die Zeit war etwas getrübt dadurch, dass gleichzeitig intensive Arbeit fürs Konzil geleistet werden musste. Wir waren ja monatelang in Rom – gut, da kannte ich mich schon aus. Aber in München musste das Institut aufgebaut werden, und als alles aufgebaut war, drei Jahre lang, ging Rahner nach Münster. Was war das für eine Zeit! Da musste eine größere Bibliothek aufgebaut werden, alles wurde renoviert, man musste jeden einzelnen Lichtschalter festlegen – und als das fertig war: Ab nach Münster! Dort waren wir räumlich sehr beengt, das war schwierig.

Kardinal Lehmann Foto: Sascha BraunAber ich kam ja dann bald nach Mainz an die Universität, nach weiteren drei Jahren konnte ich durch zwei Rufe entscheiden, bleibe ich hier, gehe ich nach Münster oder nach Freiburg. Ich ging dann trotz vieler Versuche, mich hier zu halten, nach Freiburg. Das war mein Heimatbistum, dort habe ich angefangen zu studieren, dann bin ich beurlaubt worden. Die Verantwortlichen haben sicher erwartet, dass ich mal wiederkomme. Und die Berufungsverhandlungen gaben mir keinen Grund, Freiburg abzulehnen. Sie waren damals in der Fakultät in einer schwierigen Situation. Ich war praktisch allein auf der Liste. Es hätte noch ein paar Jahre gebraucht, bis sie im Streit zwischen Erzbischof und Fakultät zurechtgekommen wären. Ich habe mich dort zwölf Jahre lang sehr wohl gefühlt. Deshalb war es eine schwere Entscheidung, Ja zu sagen zum Bischofsamt in Mainz. Ich fühlte mich pudelwohl an der Universität und in der Arbeit mit den Studenten. Da habe ich mich schon schwer getan, Ja zu sagen ...

Das war also nicht unbedingt der schönste Moment ...

Ja und nein. Von innen heraus war ich ja überzeugt, dass ich Priester werden wollte, und es war mir schon sehr wichtig, dass wir damals bei der Priesterweihe lateinisch „Adsum“ gesagt haben, auf Deutsch: „Ich bin bereit.“ Da weiß man, dass man irgendwohin gestellt wird, ohne dass man sich das immer aussuchen kann. Ich habe mir ausgesucht, nach Mainz an die Universität zu gehen, ich habe mir ausgesucht, nach Freiburg zurückzugehen. Alles andere war mehr oder weniger, dass man mir gesagt hat: Mach dies, mach das. Die Voraussetzung war, dass man das auch kann. Aber wenn ich in Freiburg geblieben wäre – ich weiß nicht, ob ich beim Gedanken, ich habe etwas Wichtiges abgelehnt, das andere von mir erwartet haben, sehr viel glücklicher geworden wäre. Jedenfalls hat mich der Gedanke an mein „Adsum“ in meiner Entscheidung bestimmt. Alles andere kam von selbst ...

Fragen: Anja Weiffen und Maria Weißenberger
Fotos: Sascha Braun

Hier geht's zum Dossier "In Gedenken an Kardinal Lehmann".

 

Glaube und Leben Extra TitelbildDieser Artikel ist entnommen aus einer Extra-Ausgabe, die zum 80. Geburtstag von Kardinal Lehmann erschienen ist. Diese können Sie kostenlos hier herunterladen.