28.04.2014

Jahresserie Ü 50 – mittendrin! (4) – Wohnformen

Sie freuen sich auf das große Plus

Ulrike und Peter Orth haben ihr Haus verkauft. Sie freuen sich auf das Wohnen in Gemeinschaft. Sie wollen mit Gleichgesinnten alt werden. Von Ruth Lehnen.

Ehepaar Orth entsorgt Hausrat im Container. Foto: Ruth Lehnen
Weg damit. Ulrike und Peter Orth werfen Ballast ab. Foto: Ruth Lehnen

So viel hat sich in 23 Jahren angesammelt. Ulrike (59) und Peter Orth (60) misten aus. Vor ihrem Haus steht ein Container und ein Tisch. Vieles, was sie nicht mehr brauchen, wird erstmal auf den Tisch gestellt. Wer will, kann es mitnehmen. Die meisten Sachen sind abends weg. Sogar die schlimme Blumenvase, ein Hochzeitsgeschenk, hat Abnehmer gefunden.

Es waren 23 gute Jahre, in guter Nachbarschaft, in schöner Umgebung, in Mainz-Hechtsheim, wo man schnell in den Weinbergen ist. Die drei Kinder der Orths sind hier groß geworden. Doch das schöne Haus, es passt nicht mehr. Drei Etagen, viele Stufen. Zu viele Zimmer. Zu viel Stauraum, in dem sich zu viel angesammelt hat. Der Abschied fällt Ulrike Orth leicht. Seit gut zehn Jahren befasst sie sich mit ihrem Wohntraum, jetzt wird er Wirklichkeit.

„Ich freue mich so darauf, wieder auf einer Ebene zu sein, näher beieinander.“ Die Orths ziehen im August in ein gemeinschaftliches Wohnprojekt im Martin-Luther-King-Park in Mainz. Sie verkleinern ihre Wohnfläche um ein Drittel, sie rücken näher an die Innenstadt heran, sie werden barrierefrei wohnen. Am wichtigsten ist ihnen aber: Eine neue Gemeinschaft zieht mit. Zwölf Paare und 16 Einzelne  – der Verein Vis-à-Vis: Sie alle werden in einem Haus wohnen und gemeinsam in ihre Zukunft gehen.

„Wir können uns gegenseitig entlasten“

Schon früh haben Ulrike Orth, die Anwältin, und Peter Orth, Rektor der Katholischen Hochschule Mainz, Gemeinschaft über die Familie hinaus ausprobiert. Mit Nachbarn fanden sie ein „Abendessensmodell“ – beide Familien nahmen die Hauptmahlzeit zusammen ein. Nicht jeden Tag kochen müssen und die Erfahrung: „Wir können uns gegenseitig entlasten.“ Ulrike Orth nennt das: „Wir haben mit der Nachbarsfamilie fusioniert.“ Jetzt werden Orths mit einer noch größeren Zahl von Menschen fusionieren.

40 Menschen zwischen 45 und 81 Jahren ziehen in die unterschiedlich großen Mietwohnungen. Vis-à- Vis ist ein erfolgreiches Projekt des gemeinschaftlichen Wohnens. Vom ersten Kennenlernen 2010 bis zur Vereinsgründung im Juli 2011 und bis zum Einzug im Sommer 2014 haben die Wohnpioniere ihren Traum in Rekordzeit wahrgemacht. Ihr Motto: „Aktiv und gemeinsam statt passiv und einsam“. Nach diesem Motto haben die Vereinsmitglieder gemeinsame Wochenenden verbracht, Ausflüge und Wanderungen gemacht, sich mit anderen Initiativen vernetzt und auch eine Krise überlebt. Gemeinsam entscheiden sie über die Anträge weiterer Interessenten. „Ich brauche die Wohnung“ ist da kein zündendes Argument. Wer bei Vis-à-Vis mitmachen will, muss auch für die anderen da sein wollen.

Ulrike Orth freut sich auf ein großes Plus in ihrem Leben. Normalerweise gelte doch: „In unserem Alter lernt man keine neuen Leute mehr kennen.“ Beim Gemeinschaftswohnen ist das anders: Jede Menge neue Leute, neue Kontakte, neue Freundschaften, das ganze Leben sortiert sich neu. Und weil Orths in Mainz bleiben, hoffen sie, dass sie die alten Kontakte nicht verlieren: Sie wollen weiterhin in ihrem Gospelchor singen, sie wollen weiterhin für die alten Freunde da sein.

Haus verkauft, Auto verkauft: Die Orths wollten frühzeitig Ballast abwerfen. Noch sind sie fit, legen fast alle Wege mit dem Fahrrad zurück, für den Rest gibt es Car-Sharing. Aber sie wissen, wie jeder weiß, dass das Alter einen schnell einholen kann. Sie hören und lesen von der Vereinsamung alter Menschen, die allein auf 140 Quadratmetern im Reihenhaus leben, von der Pflegebedürftigkeit, die schnell kommen kann.

Spatenstich. Foto: privat
Ein Jahr her ist der Spatenstich. Jetzt geht es mit Schwung an den Einzug.
Foto: privat

Und sie setzen um, was viele andere vor sich her schieben: „Man muss das machen, wenn man es will, nicht, wenn man es muss“, sagt Ulrike Orth. Die beiden haben ihre Entscheidung frei getroffen, nicht getrieben von Krankheit oder Not. Ihre drei Kinder, da sind sie sicher, finden ihre Entscheidung gut.
Unterwegs zu ihrem Ziel haben sie eine Menge erfahren und gesehen. Projekte für gemeinschaftliches Wohnen sind schwer im Kommen, es gibt viele Interessenten. Für die Anwältin ist aber entscheidend, dass die Sache auch vorangeht: „Sonst wird das ein Debattierclub, dann dümpelt es vor sich hin, und dann schläft es ein.“

Manche befassen sich lange mit dem Wohntraum, wenn es aber heißt, konkret zu werden, blüht es im Garten gerade so schön – da kann man nicht weg. Das Eigentum, in das man so viel investiert hat – das tut dann doch weh. Und wenn die Kinder zu Besuch kommen – wo sollen die schlafen? Viele Gründe, wieso der Traum vom neuen Wohnen oft ein Traum bleibt.

Solidarität und Gemeinschaft

Ins neue Haus zieht eine Mittelstandsgesellschaft, denn das neue Mietwohnen ist nicht billig: 9,50 Euro pro Quadratmeter, kalt. Von Menschen mit einem anderen als deutschem Pass kam keine Anfrage. Trotzdem ist die Wohngemeinschaft gut gemischt: Singles, Paare, eine große Altersspanne, und ein Rollstuhlfahrer zieht auch mit ein.

Vis-à-vis ist nicht weltanschaulich gebunden. Ulrike und Peter Orth ist bei ihrer neuen Adresse die Nachbarschaft zur Mainzer Hochschulgemeinde wichtig. Sie erzählen von einem Meditationskreis, der sich im neuen Haus wahrscheinlich bilden wird, aber auch von den atheistischen neuen Nachbarn, die gesagt haben: „Ihr seid uns lieb und teuer, aber versucht nicht, uns zu missionieren.“ Deshalb muss über eine Segnung des neuen Hauses noch diskutiert werden. Ulrike Orth denkt schon an das erste Weihnachten: Niemand soll allein in seiner Wohnung sein, der das nicht will. Und für Peter Orth hat sein neues Wohnen durchaus mit seinem Glauben zu tun: Es geht ihm um Gemeinschaft und es geht ihm um Solidarität.
 

Tipp: So gelingt das Wohnprojekt

Hinweise von Ulrike Orth, Anwältin und im Vorstand von Vis-à-vis Mainz:

  • eigene Vorstellungen klären und Gleichgesinnte finden
  • frühzeitig entscheiden, ob es um Mietwohnen oder Eigentum gehen soll
  • konkret werden im Hinblick auf Grundstück und Investor
  • mit den Gleichgesinnten (im Verein) viel Zeit verbringen, Gemeinschaft bilden
  • sich vernetzen, informieren  bei anderen Projekten
  • Basisdemokratie üben: Jeder aus der Gruppe muss sich wiederfinden und gehört werden.

Infos im Internet:
www.vis-a-vis-in-mainz.de/
www.drk-lebenswohnraum.de