16.12.2014

Schwanger ohne Herberge, auf der Flucht mit einem Baby

Steh auf und flieh!

Hodon hat noch nie ein Krippenspiel gesehen. Die Weihnachtsgeschichte ist ihr nicht vertraut. Dennoch kann die 34-jährige Frau aus Somalia nachvollziehen, was es bedeutet, als werdende Mutter unterwegs zu sein und nirgendwo Aufnahme zu finden.

 

Sie hoffen auf eine gute Zukunft für sich und ihre Kinder: Abdulkadir und die schwangere Hodon flohen aus Somalia nach Malta 
Foto: Liva Leykauf-Rota

 

Hodon lebte mit ihrem Mann Abdulkadir ein einfaches Leben im Süden Somalias. Er hatte als Automechaniker ein kleines, aber regelmäßiges Einkommen. Die beiden waren zufrieden. Dann zerriss die brutale Gewalt, die seit Jahren in Somalia herrscht, ihr beschauliches Leben. Abdulkadir wurde von den militanten Al-Shabaab-Milizen vor die Wahl gestellt: den islamistischen Kämpfern beitreten oder erschossen werden. Um ihrer Drohung Nachdruck zu verleihen, schlugen sie ihm mit dem Gewehrkolben die Schneidezähne aus und verwundeten ihn am Kopf. „Unsere einzige Chance war zu fliehen.“ Sie ließen alles zurück, verabschiedeten sich von ihren Familien und machten sich auf eine lange Reise mit unbekanntem Ziel. 

Tausende Kilometer waren die beiden unterwegs, zu Fuß, in Autos von feisten Schleppern, durch die Wüste, durch felsige Gebiete: Viele Monate lang zogen sie von Somalia durch Äthiopien in den Sudan, immer nordwärts bis nach Libyen, getrieben von der Hoffnung, irgendwo anzukommen, wo sie sicher sind, wo sie ein neues Leben beginnen können. 

Wenn sie von dieser entbehrungsreichen Zeit erzählen, bewegen sich ihre Gesichtszüge kaum, der Blick stier, als hätten sie ihre Gefühle versiegelt, als hätten sie Angst, Sorgen und Schmerzen tief in sich begraben.

Doch auf einmal verändert sich Hodons Miene. „Ja, irgendwann merkte ich, dass ich schwanger bin.“ Sie lächelt. Auch ihr Mann lächelt, kurz blitzen die Stummel der ausgeschlagenen Schneidezähne auf, die an die schlimmen Erlebnisse in Somalia erinnern. 

 

Dass Hodon schwanger war, interessierte niemanden

Die Al-Shabaab-Milizen verbreiten in Somalia Angst
und Schrecken. Sie bedrohten auch Hodon und ihren
Mann Abdulkadir. Foto: pa/Ap photo

Gleich werden beide wieder ernst. „Ich war schwanger, aber das interessierte keinen. In Libyen wurden wir verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, weil wir keine gültigen Papiere hatten.“ Hodon streicht über ihr Gesicht, als wolle sie böse Gedanken vertreiben. „Wir wurden voneinander getrennt. Ich war mit 100 Frauen in einer Zelle, hatte kaum Platz zum Liegen, musste zusammengekauert oder im Sitzen schlafen.“ Über Monate sah die werdende Mutter ihren Mann nur kurz bei der Essensausgabe. Sie konnten den liebevollen Blick des anderen erhaschen oder sich ein ‚Alles in Ordnung?’ zurufen, dann wurden sie weitergeschoben und in die überfüllten Zellen zurückgebracht. Hodons Mundwinkel zucken, als sie von ihren Tränen und ihrer Einsamkeit in der Gefangenschaft berichtet. Gedankenversunken streicht sie wieder über ihr Gesicht.

Einige Tage vor der Geburt wurden die werdenden Eltern entlassen. Da standen sie nun, irgendwo in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht sprechen, gefahrlaufend, gleich wieder verhaftet zu werden, völlig schutzlos. Sie hatten nur sich selbst. „Irgendwo mussten wir hin, das Kind konnte jeden Tag kommen. Wir hatten kein Geld. Und so landeten wir in Abu Salim.“ Dieser Stadtteil der libyschen Hauptstadt Tripolis wird nicht umsonst Migrantenghetto genannt.

In diesem Quartier in Tripolis stranden Tausende Flüchtlinge aus dem südlichen Afrika. Hier ist „Endstation Sehnsucht“ – ein Paradies für Schlepper und Menschenhändler. Hoffnungslos. Dreckig. Laut. Aggressiv. Kein Ort, der nach Leben schmeckt. 

 

Inmitten von Chaos gebar Hodon ihren Sohn

Sie riskieren ihr Leben, um in Sicherheit leben zu können:
Bootsflüchtlinge vor Malta
Foto: kna-bild

„Und mitten in diesem Chaos gebar ich Idris, unseren Sohn.“ Hodon dreht sich um, zeigt gerührt auf den kleinen Jungen, der friedlich hinter ihr in seinem Kinderwagen schläft. „Ich war nach der langen Flucht geschwächt, ich war müde. Aber auch Tausende Kilometer von Somalia entfernt, waren wir noch nicht in Sicherheit. In Libyen waren wir Freiwild. Was blieb uns anderes übrig, als weiterzuziehen? Nach Europa.“ 

Ihnen war bewusst, dass die Fahrt über das Mittelmeer gefährlich ist, dass viele sterben oder zurück nach Libyen gebracht werden. Schlaflose Nächte des Abwägens folgten. „Wir mussten es wagen. Jetzt waren wir eine Familie. Entweder wir sterben miteinander oder wir haben miteinander irgendwann ein besseres Leben.“ Wieder dreht sich Hodon zu ihrem kleinen Sohn, der schläft, als habe die ganze Geschichte nichts mit ihm zu tun. 

Maria und Josef flohen mit dem gerade geborenen Jesuskind nach Ägypten – auf der Flucht vor Herodes und seinen Leuten. Auch von dieser Geschichte wissen Hodon und Abdulkadir nichts. Und doch erinnert ihr Schicksal an die Flucht des Paares aus Nazaret. Nur, dass die drei Somalier nicht mit einem Esel durch die Wüste zogen, sondern mit einem Boot über das Meer. Gefährlich war wohl beides.

„Die Überfahrt in dem viel zu kleinen Schlauchboot war fürchterlich“, erinnert sich Hodon. „Ich hielt unsern Sohn ganz fest, sein winziger Körper gab mir Sicherheit.“ In diesen Julitagen war das Meer ungewöhnlich aufgewühlt, das völlig überladene Gummiboot schlug hart aufs Wasser, stieg hoch, schlug wieder auf. „Nur wenn ich mich etwas ausruhen wollte, gab ich den kleinen Idris meinem Mann“, erzählt Hodon, als sie an diese Zeit zurückdenkt. „Das Baby schrie viel, die Sonne brannte erbarmungslos auf uns, ich hatte Probleme zu stillen. Doch ein Zurück gab es nicht.“ Drei Tage und drei Nächte waren sie unterwegs, ungewiss, ob sie je irgendwo ankommen, bis endlich am Horizont Malta auftauchte. 

 

„Wir sind in Sicherheit und am Leben“

Wie in Trance stiegen sie in den Bus, der sie – einmal mehr – in ein Gefängnis brachte. Strafbestand: illegale Einreise. „Mir war alles egal. Wir hatten es überlebt. Wir waren zusammen. Irgendwann kam eine Frau in unsere Zelle, die nicht zum Gefängnispersonal gehörte. Sie gab uns Windeln und Kleider für Idris. Sie lächelte uns an. Da wusste ich, dass alles irgendwie gut wird. Ich legte meinen Kopf auf Abdulkadirs Schulter und weinte. Ich war so erleichtert. Zum ersten Mal konnte ich mich richtig freuen, dass wir einen Sohn haben.“

Zwei Wochen lang blieben Hodon, Abdulkadir und Idris in dem maltesischen Gefängnis für Flüchtlinge, dann kamen sie frei. Seither ist ein Jahr vergangen. Inzwischen leben sie in einer eigenen kleinen Wohnung. Vor einigen Monaten wurde Mascuud geboren, wieder ein gesunder, properer Junge. Vorläufig darf die Familie in Malta bleiben, auch wenn der Asylstatus noch nicht endgültig geklärt ist. „Das Leben ist hier nicht einfach, mein Mann findet trotz aller Bemühungen keine Arbeit und wir haben sehr wenig Geld zur Verfügung. Aber wir sind in Sicherheit und wir sind am Leben. Davon haben wir die ganze Flucht über geträumt.“

 

Von Livia Leykauf-Rota