01.12.2016

Christliches Georgien

Voller Mythen und Legenden

Er wolle die antiken christlichen Wurzeln auf diesem Boden würdigen, sagte Papst Franziskus bei seiner Reise nach Georgien im Oktober. Tatsächlich ist Georgien neben Armenien das älteste Land der Welt, das seinen christlichen Ursprung bis heute behauptet.

Wilder Kaukasus: Das Kloster Dawid Garedscha im Osten Georgiens. Foto: Marina Dodt

Der Freiheitsplatz in der Hauptstadt Tiflis könnte nicht symbolträchtiger sein: Anstelle des Lenindenkmals als Zeichen sowjetischer Besatzung thront hier heute der heilige Georg, Georgiens Schutzpatron. Der 23. November, der georgische Georgstag, ist gesetzlicher Feiertag und Ausdruck wiedergewonnener Freiheit und christlichen Selbstverständnisses. 

Die Geschichte Georgiens sei wie ein altes Buch, das auf jeder Seite von heiligen Zeugen und christlichen Werten erzählt, die die Seele und Kultur des Landes geprägt haben, sagte Papst Franziskus während seiner Georgienreise. Am Anfang dieses „Buches“ steht eine Frau, die den christlichen Glauben in die Mitte der alten Welt, den Knotenpunkt Europas, Asiens und Afrikas brachte. 

 

Hoch verehrte Apostolin: die heilige Nino

Die heilige Nino, um 325 in Kappadokien geboren, floh als Sklavin über den Kleinen Kaukasus in das Königreich Iberien im heutigen Georgien. Hier wirkte sie als große Heilerin und Missionarin, bereits im Jahr 334 wird das Christentum Staatsreligion. Das alte Buch Georgiens füllen seither viele Kapitel: das „goldene Zeitalter“ vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, vor allem aber Kriege und Bürgerkriege, Annexion und Besatzung. Doch die Georgier sind sich und dem christlichen Glauben treu geblieben. Er wurde zum prägenden Teil ihrer Identität und scheint hier – anders als bei uns – fest im Alltag integriert: die Frau, die mit vollen Einkaufstaschen in die Kirche eilt und im Gebet versinkt; der Busfahrer, der sich beim Vorbeifahren an einem Gotteshaus bekreuzigt; die Menschentraube vor den Ikonen, der andächtige Kuss. Über 90 Prozent der Bevölkerung gehören der Georgisch-Orthodoxen Apostelkirche an. Ungeachtet öffentlich geäußerter Reformwünsche erntet sie 95 Prozent Zustimmung, ist „innere Mitte“ des Landes. 

Die heilige Nino
Foto: Marina Dodt

Die heilige Nino wird bis heute als „Erleuchterin Georgiens“ im Range einer Apostelgleichen verehrt. Und es wäre nicht Georgien, wenn sich um ihre Gestalt nicht einige Legenden rankten. So führen die Spuren der heiligen Nino und des antiken Chris-tentums in die alte Hauptstadt, in das unter Unesco-Welterbe stehende Mzcheta, 20 Kilometer von Tiflis entfernt. Hier soll die Heilige den Platz für die erste Kirche Georgiens ausgewählt haben. Hier begann die Christianisierung, hier ist der Geburtsort der georgischen Kirche. Heute erhebt sich hier die im 11. Jahrhundert erbaute Swetizchoweli-Kathedrale (Kirche der lebensspendenden Säule). Sie war über mehrere Jahrhunderte Krönungs- und Begräbnisstätte der georgischen Monarchen sowie Hauptkirche der Georgischen Orthodoxen Apostelkirche. 

Und natürlich birgt diese Kathedrale ein Geheimnis: Auch die Orthodoxie hat ihren Heiligen Rock. Der Überlieferung nach sei ein georgischer Jude namens Elias nach Jerusalem aufgebrochen, um im Prozess gegen Jesus für ihn auszusagen. Er kam zu spät, kaufte jedoch einem römischen Soldaten das Gewand Christi ab. Im heimatlichen Mzcheta angekommen, drückte seine Schwester das Gewand so fest an sich, dass sie nach ihrem Tod mit ihm begraben wurde. Die heilige Nino soll bestimmt haben, genau über diesem Grab eine Kirche zu bauen. Der Heilige Rock, durchgewebt und ganz ohne Naht, sei ein Geheimnis der Einheit und ermahne uns, „tiefen Schmerz über die Spaltungen zu empfinden, die sich im Laufe der Geschichte zwischen den Christen vollzogen haben“, so nahm der Heilige Vater den Geist dieses Ortes auf, ermutigte mit Blick auf den komplizierten ökumenischen Dialog dazu, „in aufrichtiger Liebe und gegenseitigem Verständnis die Risswunden wieder zu schließen“, zu einem Christentum in einem Gewand. 

 

Der heilige Georg kämpfte jahrhundertelang

Und noch ein Heiliger wird in Georgien hoch verehrt: der Namensgeber, der heilige Georg. Ebenso wie die heilige Nino soll auch Georg aus Kappadokien stammen, hier um das Jahr 280 geboren sein. Der Märtyrer zählt zu den 14 Nothelfern. Der Überlieferung nach soll er an den Kämpfen Georgiens gegen seine Feinde persönlich beteiligt gewesen sein, so gegen die Seldschuken (1121) oder Persien (1659). Nach seinem Tod soll er in 365 Stücke zerteilt und seine sterblichen Überreste in ganz Georgien bestattet worden sein. Viele Kirchenbauten in Transkaukasien sind auf diesen Bestattungsorten errichtet. Das Kreuz des heiligen Georg ist als Bestandteil des Jerusalemkreuzes seit 2004 auf der Landesflagge Georgiens verewigt.

Die Swetizchoweli-Kathedrale, deren Platz die heilige Nino
der Legende nach selbst ausgesucht hat.
Foto: Marina Dodt

Diese Inspiration der antiken christlichen Stätten ist in Georgien allgegenwärtig. Die typischen Kreuzkuppelkirchen prägen das Landschaftsbild, vermitteln einen Hauch Byzanz. Eine besondere Aura umgibt dabei das Kloster Dawid Garedscha in der gleichnamigen Wüste. Die aus dem 6. Jahrhundert stammende Anlage mit ihren höhlenartigen Räumen und erstaunlich gut erhaltenen Malereien ist das älteste Kloster Georgiens und steht auf der Vorschlagsliste zum Unesco-Welterbe. Nur wenige Meter sind es von hier bis zum Grenzkamm, wo man mit einem Bein noch in Georgien und dem anderen schon in Aserbaidschan steht. In dieser bergigen rauen Unendlichkeit mit ihrem faszinierenden Farbspiel erschließt sich der Mythos Wüste als Ort der Zurückgezogenheit, der Sammlung und Spiritualität.

Die einzigartige Verschmelzung von Natur und georgischer Kultur zu einer urchristlichen archaischen Kulturlandschaft erlebt im Kaukasus ihre Kulmination, der Mythos schlechthin. „Der Kasbeck, an den sich die poetische Sage vom Prome-
theus knüpft, ragt mit seinem beschneiten Gipfel mitten aus der Gebirgskette hervor … Es war ganz verschieden von allem, was wir gesehen; es war der Kaukasus, der Schauplatz, auf dem der erste dramatische Dichter des Altertums sein erstes Drama spielen lässt – ein Drama, dessen Held ein Titan, dessen handelnde Personen Götter sind“, so beschreibt Alexandre Dumas 1858/59 seine „Gefährliche Reise durch den wilden Kaukasus“. 

 

Nicht mehr gefährlich, aber überwältigend

Auch wenn eine solche Reise heute weniger gefährlich ist als zu den Zeiten von Dumas: überwältigend ist sie allemal. Der schneebedeckte Gipfel des über 5000 Meter hohen Kasbek wirkt wie ein weises Haupt. Vor seiner gewaltigen Kulisse erhebt sich die Gergeti-Dreifaltigkeitskirche, ein Anblick erfüllt von Ehrfurcht und einer Ahnung von Ewigkeit. Wo sonst sollte sich der Kreis von der griechischen Antike über das (Ur-)Christentum bis zur Gegenwart sinnhafter schließen und vollenden als in Georgien und Transkaukasien, der alten, neuen Mitte der Welt?

Von Marina Dodt