21.09.2021
Das "Ethik-Eck": Annehmen und loslassen
Ist es denn christlich, alles so sein zu lassen, wie es ist?
Die Frage lautet diesmal: „Meine Meditations-App schlägt immer vor, ich soll ,annehmen, was ist‘ und ,loslassen‘. Ist es denn christlich, alles so sein zu lassen, wie es ist?“
Wandelndes Potential
Jesu (Maria-Ward-Schwestern) an und leitet
im Bistum Fulda den Entwicklungsbereich
Geistliche Prozessbegleitung.
„Annehmen“ und „Loslassen“ hat in verschiedenen geistlichen Traditionen unterschiedliche Bedeutungen. Deshalb wäre die erste Frage: In welcher Tradition bewegt sich die Meditations-App? Ist das höchste Ziel das kontemplative Sein vor Gott? Oder stehen fernöstliche religiöse Traditionen im Hintergrund, und das Loslassen zielt auf die Auflösung des Selbst? Man sollte keine App den eigenen Weg beeinflussen lassen, deren Zielfokussierung man nicht kennt!
Doch auch im Christentum finden sich verschiedene Traditionen: Im christlichen Osten führt der Weg des inneren Betens mit dem Namen Jesu über ein Loslassen der Gedanken. Im Westen, speziell in der ignatianischen Tradition, führt der Weg der Orientierung auf Gott hin gerade über das Zulassen, Wahrnehmen und Unterscheiden solcher inneren Bewegungen, das heißt Gedanken und Gefühle. Hier sollte man allerdings differenzieren: Alle inneren Bewegungen gilt es zwar in dem Sinne zuzulassen und anzunehmen, dass sie da sind und mir etwas zu sagen haben. „Annehmen“ bedeutet aber nicht, sie einfach gutzuheißen und vor allem nicht, ihnen einfach unterschiedslos zu folgen. Das lässt sich sehr gut an der Überschrift für die Regeln zur Unterscheidung der Geister in den Geistlichen Übungen erklären, die Ignatius formuliert: „Regeln, um einigermaßen die verschiedenen Bewegungen zu erklären und zu erspüren, die in der Seele sich verursachen; die guten, um sie aufzunehmen, die schlechten, um sie zu verwerfen.“ (EB 313)
Die „Geister“, die es zu unterscheiden gibt, zeigen sich genau in jenen inneren Bewegungen. Und weil man zu Beginn des Unterscheidungsprozesses in der Regel nicht weiß, durch welche Bewegung der Heilige Geist spricht, oder andere Geister, die mich in zerstörerische Dynamiken führen, gilt es zunächst alle Bewegungen anzunehmen in dem Sinne, dass sie da sein dürfen. Die Leitfrage ist dann: Wohin führt mich eine innere Bewegung – näher zu Gott, zu mir selbst, zum Nächsten?
Führt die Bewegung in eine destruktive Dynamik, gilt es ihr nicht zu folgen, ohne in Selbstanklagen zu verfallen. Führt die Bewegung dagegen in ein Mehr an Glaube, Hoffnung und Liebe, gilt es ihr zu folgen, auch wenn es in Konflikte führt. So entfaltet der Geist Gottes sein schöpferisches und wandelndes Potential.
Eine Kunst, lohnt sich
Mir fiel sofort der bekannte Kalenderspruch ein: von Gelassenheit und vom Ändern und der Bitte, das klug unterscheiden zu können. Ja, das ist wirklich ein schmaler Grat: wann annehmen und loslassen, wann nicht hinnehmen und losgehen?
der Ehe- und Sexualberatung im
Haus der Volksarbeit in Frankfurt
Mit den wachsenden Lebensjahren sammeln sich Erfahrungen, dass manches nicht änderbar ist und vieles ertragen werden muss: Verluste, Erkrankung, Kränkungen, Ungenügen, bei mir und anderen. Dann ist es schon eine kluge Haltung, sich in Gelassenheit zu üben, statt verkniffen, bitter und verkrampft etwas festhalten oder erzwingen zu wollen. Und damit sein Unglück zu konservieren. Dann ist es eine Kunst, etwas aus der Hand zu lassen.
Paartherapeuten wissen, dass Paare, die lange und gerne zusammenleben, nicht weniger Konflikte haben als andere, aber dass sie sie anders lösen, nämlich manchmal gar nicht: sie lassen sich. Sie können aushalten, dass der und die andere fremd ist und in diesem oder jenem Punkt doch etwas seltsam. Aber: Sie können sich auch was einfallen lassen, auch mal was Neues probieren und müssen nicht stumm und resig-niert am Kaffeetisch landen.
Denn es gibt ja genauso die andere Seite: Es kann klug, lebendig und erfrischend sein, dranzubleiben, weiter zu versuchen, zu hoffen, einzustehen, Veränderungen für möglich zu halten und damit dann auch viel erreichen und bewegen zu können.
Es sind vielleicht die zwei Seiten einer Medaille, zwei Blicke auf die eine Realität: wo geht es so nicht weiter – also lasse ich es und wo könnte sich etwas verändern – also tue ich was. Erst ein Blick auf die Realität und sich dann möglichst klug und menschenfreundlich verhalten. Ein Pendeln und ein Balancieren zwischen beidem, und kein Abdriften in Starre und Rigidität, in Resignation oder Aktionismus.
Die Erfahrungen in der Pandemie hatten ja auch dieses Doppelgesicht: Es passiert etwas, was ich nicht in der Hand habe, es gibt eine große Ohnmacht und Ängste, die Gelassenheit brauchen, gleichzeitig schnelle Entwicklungen und Ideen, die nach Aufbruch rufen, nach dem, was jetzt und vielleicht auch langfristig gesellschaftlich verändert werden könnte.
Genauso in der Groß-Herausforderung der Klimafragen: Realität erkennen und dann beides – Gelassenheit trotz der Bedrohung, nicht mehr Passendes, Schädliches loslassen und dann loslegen.
Es bleibt wohl nur das sowohl als auch: ein sich bewegen, ein Hin und Her von lassen und tun, ein Pendeln zwischen Polen, ein gleichzeitig loslassen und nicht lassen, was ist.
Eine Kunst, aber lohnt sich.
Eingestehen: So ist es!
am Lehrstuhl für Moraltheologie an
der Universität Mainz.
Als Menschen teilen wir wohl alle die Erfahrung, dass es Momente in unserem Dasein gibt, die sich unserem Zugriff weitgehend entziehen, uns bisweilen sogar unsere Grenzen aufzeigen. Besonders hart treffen uns dabei jene Situationen, in denen wir mit dem Verlust geliebter Personen oder mit unserer eigenen Endlichkeit (Altern, Sterben, schwere Krankheit) konfrontiert sind. In einem schwächeren Ausmaß machen wir diese Erfahrung auch in unserem Alltag: Der Wetterbericht kündigt starke Regenschauer an, obwohl wir auf Sonnenschein gehofft hatten; wir hüten mit einer schweren Verkühlung das Bett, obwohl wir lieber auf Reisen wären…
Aber: Was bedeutet es in diesen Kontexten nun, das Gegebene anzunehmen beziehungsweise loszulassen? Annehmen und Loslassen sind keinesfalls gleichbedeutend mit Passivität und Resignation. Vielmehr handelt es sich um Grundhaltungen, die uns dazu anleiten, das zu akzeptieren, was sich unserer Verfügbarkeit prinzipiell entzieht, uns ohne unsere Zustimmung widerfahren kann. Die Annahme besitzt deshalb wie das Loslassen und Verabschieden stets ein aktives Moment: Ich muss mich den jeweiligen Umständen stellen, habe mir sozusagen einzugestehen: So ist es!
Warum jedoch ist diese Einsicht so zentral? Solange wir hadern, bleiben wir blockiert. Wenn wir hingegen annehmen beziehungsweise loslassen, können wir fragen: Wie gehe ich jetzt damit um? Annahme bedeutet daher nicht zwangsläufig, alles so sein zu lassen, wie es eben gerade ist.
In manchen Fällen bleibt uns nichts anderes übrig. In anderen Fällen können wir aber durchaus nach möglichen Lösungen und Alternativen suchen, bilden Annehmen oder Loslassen überhaupt erst die notwendige Voraussetzung für unser gezieltes Tätigwerden, Weiterdenken …
Teilt diese Einsicht auch das Christentum? Ja. Erst kürzlich hat Papst Franziskus in einem Schreiben über den heiligen Josef (Patris corde) diese Verschränkung von Annahme und Einsatz gewürdigt. Selbst Josef hat sich Situationen stellen müssen, die sich letztlich seiner Kontrolle entzogen haben und die er dennoch anzunehmen versucht hat, ohne „ein passiv resignierter Mann“ zu werden. So wird Josef zum Vorbild dafür, „ein Problem in eine Chance zu verwandeln“. Folglich lässt sich mit Franziskus schließen: „Wenn auch die erste Stufe jeder echten inneren Haltung darin besteht, die eigene Geschichte anzunehmen, das heißt, dem in uns Raum zu schaffen, was wir uns in unserem Leben selbst nicht ausgesucht haben, braucht es dennoch eine weitere wichtige Eigenschaft: den kreativen Mut.“