15.06.2015
Turiner Grabtuch mit Abbild eines Gekreuzigten zieht Millionen an – „Ikone“ auf Leinen macht Kreuzesgeschehen greifbar
Geschlossene Augen schauen Betrachter an
Wann es das nächste Mal gezeigt wird, weiß keiner. Deshalb zieht die Ausstellung des Turiner Grabtuchs so viele Menschen weltweit an. Eine Gruppe mit Lesern der Kirchenzeitung aus den Bistümern Fulda, Limburg und Mainz zählte zu den Betrachtern des Leinentuchs, in das Jesus nach der Kreuzigung eingehüllt gewesen sein soll. Bis 24. Juni wird es im Turiner Dom gezeigt. Von Hans-Joachim Stoehr.
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Das Gesicht eines Gekreuzigten: Die Aufnahme ist die Reproduktion eines Textildrucks auf beigem Leinen, der für die Ausstellung des Grabtuchs hergestellt wurde. Foto: Hans-Joachim Stoehr |
Die Fahrt nach Oberitalien führt mit dem Bus durch das sonnendurchflutete Tessintal. In wenigen Stunden haben die Pilger und Pilgerinnen aus Hessen und Rheinland-Pfalz das Ziel ihrer Fahrt erreicht: Turin. Die Stadt, in der das Grabtuch aufbewahrt, das 4,36 Meter lange und 1,10 Meter breite Leinenstück, mit dem nach der Überlieferung der Leichnam des gekreuzigten Jesus umhüllt wurde.
Auf dem Grabtuch sind Blutspuren – keine Farbreste
Neben dem Busfahrer sitzt Pfarrer Dr. Dagobert Vonderau. Der Geistliche begleitet die 33-köpfige Reisegruppe in die Hauptstadt des Piemonts. Über Lautsprecher spricht er über das Grabtuch. Das passt so gar nicht zu den Sonnenstrahlen der Umgebung. „Auf dem Grabtuch finden sich keine Farbreste, dafür Blutspuren“, erläutert Vonderau. Das Blut auf dem Grabtuch rühre von Wunden am ganzen Körper: auf dem Kopf, an Armen und Beinen, in der Seite, auf dem Rücken. Wissenschaftliche Untersuchungen des Grabtuchs hätten ergeben, dass die Wunden zu den Geschehnissen passen, wie sie in den Evangelien vom Leiden Jesu geschildert werden.
Zu den Mitreisenden, die die Erläuterungen von Vonderau hören, zählen Elisabeth Kaib und Reiner Görg aus Fulda. Beide haben schon ein weiteres Tuch gesehen, das ebenfalls in Italien verehrt wird: das Schweißtuch mit dem Angesicht Jesu in Manoppello in den Abruzzen. Dabei soll es sich um das Schweißtuch, das Veronika Jesus reichte.
Aber ist das Grabtuch von Turin echt oder eine mittelalterliche Fälschung? Um das herauszufinden, wurde das Leinentuch mehrfach wissenschaftlich untersucht. Es ist wahrscheinlich das am meisten untersuchte Stück Stoff überhaupt. In seiner Botschaft zur Ausstellung bezeichnet Papst Franziskus das Grabtuch als „Ikone“, als ein „Bild“. Weil die Herkunft nicht zweifelsfrei feststeht, wird nicht von einer Reliquie gesprochen, sondern von einem Bild. Der Blick auf das Bild ist der Blick des Glaubens.
Viele Ergebnisse der Nachforschungen haben sich als Indizien herausgestellt, die zum Ort der Kreuzigung Jesu passen. So hat der in das Tuch eingehüllte Mann die Blutgruppe AB. „Diese Blutgruppe ist in Europa selten, im Nahen Osten kommt sie aber häufig vor“, weiß Dr. Heinrich Fuhrmann aus Fulda, einer von drei Ärzten in der Reisegruppe. Er selbst sei auch Blutgruppe AB – „wie Jesus“.
Ortswechsel vom Bus in das Zentrum von Turin. Die Sonne der Bergwelt des Tessin ist dem Wolken verhangenen Himmel in der Poebene gewichen. Im Garten des königlichen Palastes der Savoyer bildet sich am Morgen eine immer länger werdende Schlange. Italie-nische Jugendliche singen und klatschen in die Hände.
Die Reisegruppe aus den hessischen Bistümern ist weniger euphorisch. „Wie lange können wir am Grabtuch verweilen?“, fragen Teilnehmer. Der Turiner Fremdenführer Arturo Mercandeti weiß dies auch nicht genau. Aber angesichts der vielen Menschen werde es wohl nicht lange sein, meint er.
Der Weg zum Dom ist mit Zelten komplett überdacht – zum Schutz vor Regen und Sonne. Die lange Strecke lässt erahnen, auf welche Pilgerscharen sich die Organisatoren eingestellt haben.
Bevor es in den Dom geht, werden die Gläubigen in einem größeren abgedunkelten Zelt mit einer Bildpräsentation auf das Grabtuch eingestimmt. Mehrsprachige Erläuterungen zeigen, was auf dem Leinentuch zu erkennen ist. Etwa, dass die Kopfverletzungen auf dem Tuch von einer geflochtenen Dornenhaube stammen, wie sie von römischen Soldaten als „Krone“ angefertigt wurde. Der auf Passionsdarstellungen übliche Dornenkranz entspricht nicht der Praxis römischer Folterknechte. Ein Kranz aus geflochtenen Ästen wurde auch verwendet – allerdings, um die Dornenhaube zu fixieren und dadurch noch mehr Schmerz zuzufügen.
Auch im Antlitz des Hingerichteten haben die Soldaten ihre „Handschrift“ hinterlassen. Spuren von Schlägen sind zu erkennen. Die Augen des Gesichts sind geschlossen. Papst Franziskus sagt in seiner Botschaft zur Ausstellung des Grabtuchs dazu: „Es ist das Gesicht eines Toten, und doch schaut es uns auf geheimnisvolle Weise an und spricht zu uns im Schweigen.“ Dieses Gesicht strahle „großen Frieden“ aus.
Andächtige Stille beim Anblick des Tuchs
In Stille nähern sich die Menschen durch das Seitenschiff dem ausgestellten Grabtuch. Ordner teilen die Eintretenden in drei Gruppen auf, die durch Holzgeländer voneinander getrennt werden. Dadurch wird ein Gedränge vermieden. Das Grabtuch ist von einem goldenen Rahmen umgeben. Dahinter sind rote Vorhänge angebracht. Rechts und links stehen Soldaten in Gardeuniform.
Im Gotteshaus herrscht trotz der vielen Pilger andächtige Stille. Eine Frau spricht über Lautsprecher auf Italienisch eine Meditation. Währenddessen können die Gläubigen vor dem Leinentuch verweilen.
„Das war beeindruckend und ergreifend – schwer, in Worte zu fassen“, sagt Christa Wittekind aus Kelkheim. Andere Mitglieder der Gruppe äußern sich ähnlich, als sie sich auf dem Domvorplatz um den Stadtführer Mercandeti scharen. Für Pfarrer Vonderau ist dieser Gang vorbei am Grabtuch der „Höhepunkt der Reise – gleich am ersten Tag“.