23.02.2019
Jahresserie 2019 - Folge 2
Was ist Wahrheit?
„Wir müssen reden!“ heißt die Jahresserie 2019. Und was wäre alles Reden ohne seine Basis: Wahrheit. Aber was ist Wahrheit? Was sind Fakten? Hat jeder seine eigene Wahrheit? Drei Menschen, die in ihrem täglichen Handeln mit der Wahrheit zu tun haben, erklären, was sie für sie bedeutet: ein theoretischer Physiker, eine Journalistin und ein Theologe und Philosoph.
Theoretischer Physiker: „Wahrheit bedeutet 5 σ“ *
Dr. Sascha Vogel ist theoretischer Physiker an der Goethe-Universität in Frankfurt.
„Das mag jetzt sehr unphilosophisch klingen, vielleicht sogar etwas unwissenschaftlich, aber lassen Sie mich beschreiben, was ich meine. Denn Wahrheit in der Physik ist so eine Sache … Viele Physikerinnen und Physiker lassen sich immer mal wieder zu einem Satz wie „Wir wollen die Wahrheit finden“ hinreißen. Doch kann man Wahrheit finden?
Das würde ja bedeuten, dass Wahrheit etwas ist, das tatsächlich an irgendeiner Stelle versteckt wäre. Doch ganz so einfach funktioniert der naturwissenschaftliche Prozess nun auch nicht. Leider werfen wir nicht mal eben den riesigen Teilchenbeschleuniger an und auf einmal purzelt ein neues Teilchen heraus. Solche Aussagen können wir immer nur aufgrund von vielen Experimenten treffen und dann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Eines der Grundprinzipien der Physik ist es nämlich, dass wir nie etwas hundertprozentig verifizieren können. Selbst die Aussage „Wenn ich einen Stein loslasse, fällt er nach unten“ kann ich nicht als absolut wahr betrachten – vielleicht macht er es ja morgen nicht mehr. Oder an einem anderen Ort nicht.
Und da wir nicht alle möglichen Fälle ausprobieren können, es sind nämlich unendlich viele, werden wir nie mit absoluter Sicherheit sagen können, dass eine Aussage wahr ist. Doch wie lösen wir dieses Problem? Ganz einfach – wir machen das Experiment extrem oft. Doch wie oft ist oft genug? Hier kommen die 5 σ ins Spiel. Dies ist, salopp gesagt, ein statistisches Maß dafür, wie sicher wir uns sind. Spielen wir es einmal durch für das Beispiel der Teilchenbeschleuniger und der Entdeckung neuer Teilchen. Hier beschleunigen wir Atomkerne auf eine Geschwindigkeit nahe der Lichtgeschwindigkeit und lassen sie kollidieren. Hier haben wir nun sehr viel Energie und können ganz nach Einsteins E=mc² neue Teilchen produzieren. Diese werden mit Hilfe von großen Detektoren gemessen und wir können dann schauen, ob etwas spannendes Neues dabei ist. Wie dies genau funktioniert, würde den Rahmen sprengen, aber nehmen wir mal an, dass wir halbwegs sicher seien, dass wir ein Teilchen gefunden haben. Dann muss man sich natürlich erstmal fragen – war es vielleicht einfach nur Zufall? Hat mein Detektor gesponnen? Oder ist jemand über ein Kabel gestolpert? Um das auszuschließen, muss ich also noch ein Teilchen mit den gleichen Eigenschaften finden, so wäre die Wahrscheinlichkeit für Zufall schon mal geringer. Und dann nochmal und nochmal und nochmal.
Was wir also reduzieren wollen ist die Wahrscheinlichkeit, dass unser neues Teilchen einfach ein zufälliges Signal ist. Und genau dies drücken wir aus durch die Standardabweichung σ. So ist σ in diesem Fall ein Maß dafür, wie wahrscheinlich es ist, ob wir einen echten physikalischen Effekt oder einfach nur zufällige Fluktuationen messen. Wenn meine Statistik so ist, dass die Standardabweichung 1 σ beträgt, dann kann ich mit circa Zweidrittel Gewissheit sagen, dass ich keinen Zufall gemessen habe. Es bleibt aber ein erheblicher Restzweifel. Bei 3 σ ist man sich auch schon etwas sicherer, hier beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass ich zufällige Ereignisse gemessen habe, nur noch circa 0,3 Prozent. Man spricht von einem Hinweis, dass man etwas gemessen habe. Doch um eine echte Entdeckung postulieren zu können, hat man sich in der Physik 5 σ als Limit gesetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich hier Zufall gemessen habe, liegt bei 1 zu 1,7 Millionen. Und das reicht selbst uns Physikern, um von Wahrheit zu sprechen. Auch wenn ein kleines bisschen gesunder Restzweifel natürlich bleibt. * σ ist der kleine griechische Buchstabe sigma. In diesem Fall beschreibt er die Standardabweichung in der Wahrscheinlichkeitsrechnung."
Journalistin: „Eine Aufgabe, die nie zu Ende geht“
Michaela Pilters ist Journalistin und leitete bis zu ihrem Ruhestand im Juni 2018 die ZDF-Redaktion „Kirche und Leben / katholisch“.
Lügenpresse! Mit diesem Schlagwort, das bei den Pegida-Demonstrationen immer wieder skandiert wird, müssen wir Journalisten uns auseinandersetzen, ob uns der Vorwurf gefällt oder nicht. Denn falls er zutreffen würde, hätten wir das Kostbarste verloren, auf dem unsere Zunft gründet: die Glaubwürdigkeit. Nicht umsonst sagt das Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht!“ Und was können Medienkonsumenten noch für bare Münze nehmen, wenn sie wiederholt betrogen wurden? Der Fall Relotius ist daher nicht nur für die Zeitschrift „Der Spiegel“ ein GAU, sondern für den Journalismus insgesamt. Der mit Preisen überhäufte Spiegel-Reporter hatte eingestanden, Details seiner Reportagen erfunden zu haben. Deren Texte lasen sich dadurch schlüssiger, alles passte so wunderbar ins Bild! Aber die Wirklichkeit ist in der Regel sperriger, da gibt es Widersprüchliches und Ungereimtheiten. Der Umgang mit der Wahrheit ist im journalistischen Alltag eine ständige Herausforderung und bedarf immer wieder der Reflexion. Grundlage ist zunächst das Nachrichtengeschäft. Hier geht es um Fakten. Und die lassen sich in der Regel auch überprüfen.
Was ist wo wann passiert? Wer war beteiligt? Jeder Berufsanfänger lernt, dass man zwei unabhängige Quellen für seine Berichte haben sollte. Das kostet allerdings Zeit, die man nicht unbedingt hat – vor allem nicht mehr in Zeiten des Wettbewerbs, in denen es gilt, als Erster eine Information zu bringen. Vieles wird einfach ungeprüft weiterverarbeitet, das Internet und seine sozialen Medien verstärken dieses Prinzip als Geschäftsidee. Da wird geliked und geteilt, was das Zeug hält, ohne sich zu vergewissern, wie glaubwürdig die ursprüngliche Quelle ist. Was bei den Kernfragen einer Nachricht aber noch relativ einfach ist, beginnt schon bei der Frage nach dem Warum schwierig zu werden. Denn jetzt muss etwas interpretiert werden, geht es um die Deutung von Vorgängen. Hat jemand etwas gesagt, um sich einen Vorteil zu verschaffen? Was wollte er damit bezwecken? Welche Auswirkung hat das auf die gesamte Situation? Und wie ist das zu beurteilen? Wann immer Meinung ins Spiel kommt, gibt es unterschiedliche Auffassungen, die meist auch legitim sind. Denn anders als in der katholischen Kirche, die von sich behauptet, im Besitz der Wahrheit zu sein (dies aber im Zweiten Vatikanischen Konzil auch bereits relativiert hat), gibt es im journalistischen Alltag selten die Wahrheit. Zu viele Einschränkungen sind erforderlich.
Aus Platzgründen müssen Dinge verdichtet, scheinbar Unwesentliches weggelassen werden, und um Aufmerksamkeit zu erregen, wird zugespitzt und fokussiert. In unserer ZDF-Sendereihe 37 Grad gehört es zu den Regeln, dass die Protagonisten ihre Geschichten erzählen dürfen, so wie sie sie erleben, und kein allwissender Autor sie korrigiert. Durch geschickte Auswahl von O-Tönen kann zwar deutlich werden, dass Mitmenschen deren persönliche Wahrnehmung anders sehen, aber es bleibt dem Zuschauer überlassen, daraus seine Schlüsse zu ziehen. Was ist Wahrheit? Diese Frage des Pilatus muss nicht nur im Journalismus täglich neu gestellt werden. Das Ringen um die Antwort und vor allem das Bemühen um Seriosität und Glaubwürdigkeit ist eine Aufgabe, die nie zu Ende geht. Wir haben die Verantwortung für das, was wir sagen – oder auch nicht sagen. Als Journalisten, als Christen, als Menschen. Lasst uns drüber reden.
Religionsphilosoph: „Wir können uns der Wahrheit nicht entledigen“
Oliver J. Wiertz ist Professor für Religionsphilosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen, Frankfurt. Vor seiner Lehrtätigkeit hat er die Ausbildung zum Pastoralreferenten im Bistum Mainz gemacht.
Spätestens seit dem letzten Präsidentschaftswahlkampf in den USA sind das „postfaktische Zeitalter“ und „alternative Wahrheiten“ in aller Munde. Das könnte den Verdacht nahelegen, dass die Rede von der Wahrheit nicht mehr zeitgemäß ist. So wurde in einem Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit“ im August 2017 die Wahrheit als Ideologie bezeichnet, auf welche die Geisteswissenschaften, zu denen auch die Philosophie gehört, verzichten sollten. Aber lässt sich der Verzicht auf Wahrheit überhaupt widerspruchsfrei formulieren oder begründen? Welchen Status beansprucht denn der Autor für seinen Zeitungsartikel und für die Behauptung, dass Wahrheit Ideologie ist? Hier zeigt sich ein Dilemma: Entweder beansprucht er Wahrheit für seine Behauptung und ist dann selbst ideologisch oder er beansprucht keine Wahrheit für seine Behauptung, dass Wahrheit Ideologie ist, was zur Frage führt, was er dann beansprucht. Entweder beansprucht er für seine Äußerungen etwas, was früher oder später auf Wahrheitsansprüche verweist, wie etwa Nützlichkeit (man kann fragen, ob es wahr ist, dass der Verzicht auf Wahrheit nützlich ist) oder er erhebt für seine Äußerungen gar keinen besonderen Anspruch, sondern will mit ihnen zum Beispiel unterhalten. Dann hat seine Aufforderung, auf Wahrheit zu verzichten, vielleicht Unterhaltungswert, aber Unterhaltungswert ist kein hinreichender Grund, sich der Wahrheit zu entledigen – abgesehen davon, dass sich noch einmal fragen lässt, ob es denn wahr ist, dass diese Aufforderung wirklich unterhaltsam ist. Diese Überlegungen verweisen auf etwas Wichtiges: Wir können uns der Frage nach Wahrheit nicht entledigen. Wie in der Fabel vom Hasen und dem Igel ruft die Wahrheit ihren Verneinern immer zu: „Ich bin schon da!“ Wer Wahrheit, deren Wert oder Erkennbarkeit ernsthaft leugnet, muss dabei selbst Wahrheit beanspruchen und voraussetzen.
Wahrheit ist grundlegender Bestandteil unseres Lebens und Selbstverständnisses als vernünftige Wesen. Deswegen gilt, dass nicht nur die Philosophie nicht auf Wahrheit verzichten kann, sondern „wir in dem Maße, in dem wir den Sinn für den Wert der Wahrheit verlieren, bestimmt manches und womöglich alles einbüßen“, wie der britische Philosoph Bernard Williams vor Jahren gewarnt hat. Allerdings blieb bisher offen, was überhaupt Wahrheit ist – eine Frage, die philosophisch umstritten ist. In Anlehnung an den antiken Philosophen Aristoteles lässt sich sagen, dass Wahrheit darin besteht, zu behaupten, dass das der Fall ist, was wirklich der Fall ist und dass das nicht der Fall ist, was tatsächlich nicht der Fall ist.
Es scheint nicht möglich, dieses grundlegende Verständnis von Wahrheit, das noch sehr unbestimmt ist, zu bestreiten, ohne es selbst vorauszusetzen (die Behauptung, dass es nicht der Fall ist, dass wir den Begriff der Wahrheit tatsächlich so verwenden, wie es Aristoteles behauptet, kritisiert dessen Wahrheitsbestimmung dafür, dass sie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt und setzt so die aristotelische Wahrheitsbestimmung gerade voraus). Wahrheit besteht grundlegend in der richtigen Beziehung einer Aussage zur Wirklichkeit. Dieses Wahrheitsverständnis ist auch im religiös-theologischen Zusammenhang unverzichtbar. So schreibt Paulus im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefs, dass die christliche Verkündigung leer und der christliche Glaube sinnlos ist, wenn die christliche Botschaft, dass Jesus auferstanden ist, nicht der Wirklichkeit entspricht, wenn es nicht wahr ist, dass Jesus von den Toten auferstanden ist.