09.12.2021
Was SchUM für Christen bedeutet
Jüdische Hochkultur praktisch erlebbar
SchUM – das steht für die mittelalterlichen jüdischen Gemeinden in Speyer, Worms, Mainz. Seit 2021 gehört SchUM zum Unesco-Weltkulturerbe. Was SchUM für Christen bedeutet, darüber spricht der Theologe Dr. Johannes Bremer im Interview.

Ist es Aufgabe jedes Christen, eine Brücke zum Judentum zu schlagen? Ist es Lust oder Last, sich als Christ hierzulande über jüdisches Leben zu informieren?
Wir brauchen diese Brücke gar nicht erst zu schlagen, sie ist schon geschlagen. Wenn sich auch an Verständnis und Deutung der Person Jesu Unterschiede zwischen den Religionen zeigen, verbindet die Person Jesus auch, da er voll und ganz Jude war und stets von der „Schrift“ her argumentierte. Wenn er dies tat, bezog er sich stets auf die Bibel Israels. Und die Bibel Israels, die Hebräische Bibel, entspricht bis auf wenige Schriften unserem Alten Testament.
Zur zweiten Frage habe ich somit eine Gegenfrage: Ist es Lust oder Last, Christ zu sein? Weshalb ich diese Gegenfrage stelle: Weil das Christentum voll und ganz aus dem Judentum entstanden ist. Die junge Kirche traf zwei wichtige Entscheidungen: Sie hielt an der Bibel Israels als Grundlage fest und setzte die Schriften des „Neuen Testaments“ bewusst hinter die Bibel Israels. Außerdem griff die junge Kirche nicht in den Wortlaut der jüdischen Bibel ein, „kein Jota und kein Häkchen“ (Matthäus 5,18) durfte verändert werden. Was die Verbindung des Chris-tentums zum Judentum meines Erachtens gut zum Ausdruck bringt, ist ein Zitat von Johannes Paul II. 1986 beim Besuch der jüdischen Synagoge Roms: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ,Äußerliches‘, sondern gehört in gewisser Weise zum ,Inneren‘ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“
Wie ist die jüdische Religion an den SchUM-Städten erlebbar?
Die SchUM-Städte Schpira (Speyer), Warmaisa (Worms) und Magenza (Mainz) waren als Gemeindeverbund einst das Zentrum des askenasischen Judentums.
Der Kaiser sowie die Bischöfe in den drei Städten beschlossen im zehnten Jahrhundert, jüdische Handwerker und Kaufleute im Schutz ihrer Städte anzusiedeln, ihnen Wohnraum und Rechte zu gewähren. Das brachte den Bischöfen auch Geld in die Bistumskassen. Das Besondere ist, dass sich im elften Jahrhundert diese drei Gemeinden zusammenschlossen. Unter dem Schutz der Bischöfe und des Kaisers entwickelten sie sich zu geistig-religiösen, kulturellen und politischen Zentren des mittelalterlichen Judentums.
der Mainzer Bistums-akademie
Erbacher Hof für Bibelwissenschaft,
Altes und Neues Testament sowie
Gespräche mit Judentum und Islam
Es ist kein Zufall, dass die SchUM-Städte gerade im Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnet wurden. An diesen Orten ist dieses Erbe erlebbar. Es zeigt, dass eine Beschäftigung mit dem Judentum nicht auf den dunkelsten Teil der deutschen Geschichte, auf die Shoah, zu beschränken ist. Vielmehr ist das Judentum Teil unserer vielschichtigen deutschen und europäischen Geschichte.
Erlebbar ist jüdisches Leben in den SchUM-Städten in zweierlei Weisen: zum einen durch die archäologischen Zeugnisse wie etwa die für die Architekturgeschichte bedeutsame Wormser Synagoge, die Ritualbäder (Mikwen) oder die jüdischen Friedhöfe. Zum anderen gibt es die kulturell-geistigen Zeugnisse, die Besucherinnen und Besuchern in den SchUM-Städten nähergebracht werden. Hier ist im Besonderen die Wormser Talmud-Schule zu erwähnen. Dort haben Studenten einst gelernt, die Schrift zu studieren und zu verstehen. Einer ihrer wichtigsten Lehrer, Rabbi Salomon ben Isaak, genannt Raschi, prägt bis heute die jüdische Auslegung, wie wir als Christinnen und Christen bis heute auch von Augustinus und Thomas von Aquin geprägt werden.
Es liegt sicherlich an uns, diesen Zeugnissen nachzuspüren und uns auf den Weg zum Dialog mit dem Judentum zu machen. Wir könnten uns fragen: Wie interpretieren Jüdinnen und Juden ihre Religion und ihre Texte? Und wie gehen wir mit unserer Religion und den biblischen Texten um? Gemeinsamkeiten könnten ins Gespräch gebracht werden. Der Erbacher Hof, die Akademie des Bistums Mainz, bietet zum Beispiel Veranstaltungen in Kooperation mit der jüdischen Gemeinde in Mainz an, die unter anderem auf solch einen Dialog zielen.
Beim Umgang mit Texten aus der Schrift kommt einem eine immer mal wieder anzutreffende Vorgehensweise in den Sinn: „Steinbruch-Exegese“. Man sucht für seine Auffassung eine passende Bibelstelle.
Die jüdische Auslegungstradition legt viel Wert darauf, Texte in ihrem Zusammenhang zu sehen. In dieser, aber auch in anderer Hinsicht können wir Katholiken sicher noch etwas von den jüdischen Interpretationsmethoden lernen.
Worin sehen Sie die besondere Chance für Christen, dass wir hier in der Region die SchUM-Städte haben? Und was bedeutet die Auszeichnung Unesco-Weltkulturerbe für uns?
Anhand der Zeugnisse des materiellen und immateriellen Erbes der SchUM-Städte wird deutlich, dass unsere Kultur ohne Jüdinnen und Juden und ohne das Judentum nicht denkbar ist: Nicht erst nach 1945, sondern bereits vorher, ja: zu jeder Zeit, denn immer haben Christinnen und Christen sowie Jüdinnen und Juden unser Land geprägt.
Die Auszeichnung als Weltkulturerbe erkennt an, dass „die Idee SchUM“ die wechselvolle Geschichte überdauert hat. Sie bezeugt Respekt gegenüber dem jüdischen Leben als weltweites kulturelles Erbe. Mit den SchUM-Städten hier in der Region haben wir die Chance, dies nicht nur aus Lehrbüchern zu kennen, sondern die jüdische Hochkultur auch praktisch zu erfahren.
Das Judentum in der Region entdecken – das beinhaltet bei aller Neugier auch Berührungsängste, gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte. Was ist dabei zu beachten?
Die Shoah sollte uns als Christinnen und Christen in Deutschland immer bewusst sein. Es ist ganz wichtig, dass wir dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, diese tiefe Schuld weder nivellieren noch negieren. Doch es wäre grundverkehrt, wenn wir uns deshalb davor scheuen würden, in einen Dialog zu treten. Die Begegnung mit Jüdinnen und Juden sollte unbedingt wahrgenommen und mit derselben Offenheit geschehen wie die Begegnung mit Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden. Das halte ich für entscheidend wichtig.
Kann die Beschäftigung mit den SchUM-Städten dem Antisemitismus vorbeugen?
„SchUM“ zeigt, dass das Judentum Teil der europäischen Geschichte ist und sie entscheidend mitgeprägt hat. Sich damit zu beschäftigen, trägt zum Respekt vor dem Leben jeder einzelnen Person bei und zur Anerkennung der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leistung von Jüdinnen und Juden, denn diese haben unsere Gesellschaft vorangebracht. Ich erinnere nur an Namen wie Marc Chagall, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Erich Fromm, Albert Einstein oder Paul Ehrlich. Letzterer ist sicherlich vielen aktuell durch das Paul-Ehrlich-Institut, das Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, ein Begriff.
Daher würde ich diese Frage, ob die Beschäftigung mit „SchUM“ dem Antisemitismus vorbeugen kann, voll und ganz mit ja beantworten.
Welche Orte beziehungsweise Themen der SchUM-Städte haben für das Verhältnis Judentum – Christentum eine herausragende Bedeutung?
Im Mittelalter bestand ein jüdisches Zentrum zunächst aus Synagoge und Mikwe, dem Ritualbad. Etwa ab dem 13. Jahrhundert kam die Frauenschul hinzu, eine separierte Synagoge für Frauen. Das Ensemble nennt man Judenhof und ist an einigen SchUM-Städten erkennbar. Eine Frauenschul bedeutete im Mittelalter: Frauen wurden geschätzt und gelehrt. Auch wenn eine dergestaltige Separierung von Frauen und Männern in unserer heutigen modernen Gesellschaft nicht mehr üblich ist, muss man die Frauenschul vor dem Hintergrund der damaligen Zeit betrachten.
Erinnert sei daran, dass noch zur Zeit unserer Eltern und Großeltern auch in katholischen Kirchen oft die Frauen auf der einen und die Männer auf der anderen Seite saßen. Auch gibt es aktuell noch katholische Mädchenschulen. – Im Übrigen gilt ihre Idee heute als keineswegs veraltet.
Vor allem aber betrifft das geistige Erbe des Judentums uns Christinnen und Christen. Als „SchUM-Ort“ zeigt sich dies beispielsweise auch in der Neuen Synagoge in Mainz. Sie verweist auf das jüdische Leben in den SchUM-Städten heute – und ist dabei auch ein Ort des gemeinsamen Austauschs, des Dialogs zwischen Religionen. Zu Themen, die zum Austausch einladen, gehört nicht nur die eben angesprochene Frage nach der Interpretation von Texten. Auch das soziale Miteinander und die Armenfürsorge beispielsweise sind im Dialog zwischen Juden und Christen interessant. Im Judentum ist die Armenfürsorge nicht von Almosen und Mitleid geprägt, sondern wird von der Gerechtigkeit her gedacht. Auch hier eröffnen sich Möglichkeiten bereichernden Dialogs.
Was interessiert Sie als Theologe und Bibelwissenschaftler an den SchUM-Städten am meisten?
Als Bibelwissenschaftler denke ich natürlich zuallererst an die gemeinsame Basis beider Religionen, die Hebräische Bibel beziehungsweise das Alte Testament. Aber nicht nur bei der Auseinandersetzung mit der Bibel, sondern in allen Säulen der katholischen Theologie wird auf das Judentum verwiesen. So ist auch die Geschichte des Christentums stark geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Judentum und seiner Theologie. Die Entwicklung und Bedeutung der jüdischen Theologie kann man abstrakt durch das Lesen von Büchern kennenlernen oder auch praktisch erfahren wie etwa durch die Raschi-Lehrstube in Worms. Es ist dieses „Gesamtpaket SchUM“, das für mich die Geschichte zwischen Judentum und Christentum erlebbar macht.
Interview: Anja Weiffen