21.04.2023
St. Josephshaus bei Dieburg
Bischof Kettelers folgenschweres Erbe
Das St. Josephshaus bei Dieburg gehört zu den größten Einrichtungen der Jugendhilfe im Bistum Mainz. Warum kam es dort bis in die 1970-er Jahre zu schwersten Missbrauchsfällen? Die EVV-Studie deckt die Rolle der Bischöfe dabei auf. Von Anja Weiffen

Freundlich wirkt das Gelände des St. Josephshauses. Einige Außengebäude der weitläufigen Anlage gehörten ursprünglich zu einem Wasserschloss. In Sonnengelb gestrichen umrahmen sie einen großen Hof. Vor der Einrichtung gibt es eine Ladestelle für Elektroautos. Von einer bedrückenden Heimatmosphäre, wie sie in Nachkriegszeiten hier geherrscht haben muss, ist in der modernen sozialpädagogischen Einrichtung heute nichts mehr zu spüren.
Im St. Josephshaus, gelegen im ländlich geprägten Klein-Zimmern unweit von Dieburg, werden heute 40 Kinder und Jugendliche in Wohn- und Tagesgruppen betreut. Eine Schule ist in den Gebäudekomplex integriert, dort wird in Sechser-Gruppen gelernt. Auch dezentrale Wohngruppen in Nachbarorten gibt es. Andere Zahlen aus früheren Zeiten nennt Thomas Domnick, seit 2019 Vorstandsvorsitzender des Theresien Kinder- und Jugendhilfezentrum und St. Josephshaus e. V.: „Bis in die 1970-er Jahre hinein lebten auf dem Gelände des St. Josephshauses mehr als 100 Kinder und Jugendliche.“ Die Nachkriegs-jahrzehnte nennt Domnick ein schwarzes Kapitel der Geschichte der Einrichtung. Die Ergebnisse der bistumsweiten Missbrauchsstudie EVV („Erfahren. Verstehen. Vorsorgen“) zeigen: Im St. Josephshaus mussten Kinder und Jugendliche Misshandlungen und sexuelle Gewalt erleiden. Die schweren Missbrauchsstraftaten fanden von 1945 bis in die 1970-er Jahre statt.
Kontrolle wurde faktisch kaum ausgeübt
Zwar geschah laut Studie sexuelle Gewalt im Bistum Mainz zu einem großen Teil im Umfeld von Pfarreien, aber auch in Einrichtungen wurde Kindern Gewalt angetan. Viele Ergebnisse der EVV-Studie zum St. Josephshaus decken sich mit generellen Feststellungen zur Heimerziehung. Auch im Heim-Kontext gibt es Missbrauch begünstigende Faktoren: Außenkontakte sind erschwert, die Betreuenden sind oft die einzigen Bezugspersonen, zudem wurde Heimkindern früher nicht selten noch weniger als anderen Kindern geglaubt, wenn sie sich jemandem anvertrauen wollten.
Bei der Frage nach dem „Warum“ findet man in der Studie aber noch andere Antworten. Die haben vor allem damit zu tun, wie Verantwortung organisiert wird. Das St. Josephshaus ist die traditionsreichste Jugendhilfeeinrichtung im Bistum, gegründet von „Sozialbischof“ Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Ihm muss die Einrichtung am Herzen gelegen haben, finanzierte er sie Zeit seines Lebens mit Privatgeldern und Spenden. Darüber hinaus setzte er sie als Universalerbe ein. „Die Spenden kamen auch aus den höheren Kreisen der Gesellschaft“, weiß Thomas Domnick. In einem Schreiben (1958) aus dem Nachlass von Bischof Albert Stohr heißt es: „Auch andere Mainzer Bischöfe hatten mit dem Josephshaus einen derartigen persönlichen Kontakt, so dass vor der Diözesangeschichte der jetzige Mainzer Bischof sicherlich nicht ohne weiteres dieses Sorgenkind in Klein-Zimmern abstoßen kann.“
Nach Kettelers Tod wurden die Heim-Statuten geändert. Die äußere Leitung bekam eine Kommission übertragen. Eine Schlüsselpassage der EVV-Studie zur Zeit von 1945 bis 1977 lautet: „Das St. Josephshaus ist organisatorisch direkt dem Bischof unterstellt. Dieser beruft einen Verwaltungsrat, der die formale Kontrolle über das Heim ausüben soll. Faktisch wird diese jedoch kaum ausgeübt.“ Erst 2012 wird dieses Konstrukt aufgelöst und die Einrichtung in die Strukturen der Caritas integriert. Träger ist seitdem der Theresien Kinder- und Jugendhilfezentrum und
St. Josephshaus e. V. Seit 2019 gibt es eine Doppelgeschäftsführung.
Die organisatorische Nähe der Einrichtung zur Bistumsspitze über ein Jahrhundert lang hat den Kindern wenig genützt. Die Studie zitiert aus einem Schreiben einer betroffenen Person: „Es hat auch keiner der Obrigkeiten in unserem Heim vorbeigeschaut. Im Nachhinein war es so wie ein Straflager in Sibirien – weit weg.“ Vor allem die Bischofsnähe führte dazu, dass Missbrauch vertuscht wurde. „Es war die Angst, dass die Missstände ein schlechtes Licht auf den Bischof werfen“, sagt auch Thomas Domnick.
Selbst Behörden griffen nicht durch
Selbst Behörden griffen nicht durch, wie die EVV-Studie mehrfach beschreibt. So werden Mitte der 1990-er Jahre erstmals Anzeigen gegen Aufsichtsorgane, auch gegen Bischof Karl Lehmann, erstattet. Doch sämtliche Ermittlungen werden nicht aufgenommen oder eingestellt, „unter anderem wegen der fehlenden Pflicht zur Strafanzeige für Mitglieder von Aufsichtsorganen“.
Wirklich grundlegende Strukturveränderungen, so Domnick, hat es erst 2020/21 gegeben. „Viel zu spät“, findet er. Wichtig ist ihm, die Kontrolle von Macht weiter zu verbessern. „Etwa zu überlegen, wie der Aufsichtsrat für mehr nichtkirchliche Mitglieder geöffnet werden kann.“
Der Vorstand lädt Betroffene ein, sich (auch anonym) zu melden. E-Mail: missbrauchsstudie@st-josephshaus.de [1]
Von Anja Weiffen